Der Test, der keiner war
Eigentlich wollte ich nur meine neuen Barfußschuhe testen. Halten sie nasses Gras aus und meine Füße trocken? Diese Story könnte hier mit einem „ja, tun sie, nice!“ enden.
Mein Weg führte mich an einer Herde Fleischrinder vorbei, die Kälber spielten, der Bulle musterte mich semiinteressiert, und ich halte Ausschau nach einem Einhorn (kleiner Insider, schau gerne hier). Auf dem Rückweg eine Herde Milchviecher, auch mit Kälbchen bei Fuß, nicht die hochgezüchtete Sorte. Ein alter Mann steht im Stalleingang und betrachtet, auf einen Stock gestützt, seine Rinder, und mich. Eichelhäher schimpfen in den Bäumen, die Sonne mag nicht durch den Nebel kommen. Eine friedliche Stimmung. Die letzte Etappe führte durch eine Einfamilienhaussiedlung.
Bei diesen Runden bin ich ganz bei mir und der Natur. Kein Podcast, keine Hand am Handy. Übungssache übrigens, das sah lange Zeit ganz anders aus.

Der Moment, der mich bewegte
Als ich durch die Siedlung lief, sah ich einen alten Mann, wie er vor seinem Haus Ahornblätter zusammenfegte. Und in mir kam der Gedanke auf: cool, den spreche ich an.
Vielleicht mochte ich seine Vibes, oder war innerlich gerade entspannt genug, oder mein Unterbewusstsein und das Universum haben sich gedacht “Komm, mal ne neue Erfahrung machen?” I don’t know. Meine Grundhaltung der Offenheit und Neugier waren sicherlich auch relevant.
Diese Begegnung ist die eigentliche Geschichte.
Von „Bloß nicht!“ zu „Warum nicht?“
Kurzer Einblick in mein Innenleben: Durch meine „Andersartigkeit“, die ich heute durch das AuDHS erklären kann, und meine prägenden Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, sind Menschenkontakte für mich lange ein Ding von „Bloß nicht!“ gewesen. Augenkontakt ausweichen war mein Standard, mich unsichtbar machen. Zu oft habe ich gespiegelt (bzw angenommen, dass es so wäre) bekommen, dass ich störe, merkwürdig bin oder mein Timer einfach kacke war. Neidisch betrachtete ich Menschen, die mühelos in Gespräche mit Fremden kamen, und redete mir erfolgreich ein, ich brauche das nicht. Was halt ne dumme Lüge ist. Ich bin kein Soziopath, ich sehne mich nach Beziehung, Austausch, Verbindung. Aber habe gleichzeitig Angst davor, Angst vor Verurteilung, fehlendem Verständnis, ja eben eine Form von Ablehnung.
Durch meine Zeit in AA und anderen Gruppen habe ich aber verstanden, wie beflügelnd es sein kann. Ein nettes Wort am Wegesrand macht vielleicht nicht nur meinen Tag schöner.
Gleichzeitig habe ich eins verstanden: Ich kann nicht „heilen“, innerlich UND in meinem Leben etwas ändern, wenn ich immer die gleiche Scheiße mache, immer den Vermeidungszug fahre. Es ist wichtig, aus den Köpfen der anderen Menschen raus zu kommen.
Der Safe Space als Übungsfeld
Im Safe Space der Selbsthilfegruppe durfte ich mich ausprobieren. Grenzen ziehen, schauen, was passiert, und mein System durfte lernen: menschliche Nähe, Kontakt, Austausch sind nicht immer mit Verletzungen und Abweisungen verbunden. Wer hätte das gedacht? 😀
Das kann so aussehen, dass ich Umarmungen respektvoll ablehne, und die Reaktion des Anderen aushalte, ohne sie persönlich zu nehmen. Aber auch, Menschen einen Raum zu geben, so wertungsfrei wie möglich, und schauen, was meine inneren Vorgänge mit MIR statt dem anderen zu tun haben. Oder ganz profan ausgedrückt: Arschlöcher gibt es überall, aber ich entscheide, wie ich mich fühle und mit ihnen umgehen will. Klingt wie ein Kalenderspruch, aber es geht! Man kann das lernen.
So hat sich in den letzten Jahren meine Haltung von „Bleib mir fern!“ zu „Ich bin offen und neugierig“ gewandelt. Das war Übung. Ich bin nicht einfach morgens aufgestanden und zack, anderer Mensch. Ich habe mein Bedürfnis anerkannt, neue Wege gesucht, viele Dinge bewusst als “Übungsfeld” geframt (mein Lieblingsframe für fast alles).

Das Gespräch
Zurück zu dem Mann. Der rechte da halt so rum, und ich sagte zu ihm „Na, das geht ja jetzt erst los!“ und zack, begann ein angenehmes Gespräch. In meiner Stadt wird offensichtlich das Laub abgeholt, erfahre ich. Netter Service! Der Mann machte sein Grundstück und das seiner kranken Nachbarin, es ist sein Herbstworkout, bis die Ahorn-Bäume keine Blätter mehr tragen. Er fragte mich, ob ich von hier sei, woraufhin ich erzählte, dass ich erst zugezogen sei und hier gerne lang spaziere.
Auf einmal war es fast ein Vorstellungsgespräch, aber auf so angenehme Art. Ich erzählte ihm, dass ich in der Platte weiter vorne wohnte, mit meinem Sohn, und wie schön es hier wäre. Dass ich lange in Machern gewohnt hätte. Zack, seine Familie sei mit dem Autohaus dort verbandelt. Die Welt ist ein Dorf 😀
Ich erwähne, warum ich hierher gezogen bin (Privatsache ;-)) und dass es leicht für mich war, denn ich hatte weder Wohneigentum noch Mann. Wie niedlich immer der Blick älterer Männer. „Aber sie sind doch eine hübsche Frau, warum denn nicht?“ – Naja, ich komme sehr gut alleine klar, und das Material ist bisher nicht so pralle gewesen 😉 Aber danke fürs Kompliment und dass ich „jung“ bin.
Er fragte, was ich arbeite. Ich sagte, ich helfe Menschen mit ADHS, Autismus und so, im Leben klar zu kommen. (Das ist nur die halbe Wahrheit, aber alles muss ich ja nicht gleich erzählen. Liebe übe ich das Pitchen :D) Seine Antwort: „Na, wenn ich das hätte, dürfte der Herr mich gleich zu sich hochholen“. Wie hättest du das gefunden? Ich fand es nur spannend, und habe es so stehen lassen. Vielleicht hat er mich falsch verstanden, weiß zu wenig, und ach ja, Stigma oder so. Ich konnte es dabei belassen, und DAS feiere ich.
Unerwartete Verbündete
Ich erzählte auch, dass ich aus der Konzernwelt komme und meinen vorletzten Job gekündigt hatte, weil mich diese verlogene, hinterfotzige Männerpolitik so ankotzt. Mein damaliger CEO hatte eine widerliche Sicht auf Menschen, und ich konnte nach einem speziellen Satz in einem Mitarbeitergespräch dort moralisch, ethisch,seelisch nicht mehr arbeiten. Manchen mag das heftig erscheinen, dann zu kündigen, aber innerlich hatte ich eh schon gekündigt. Integrität ist mir ein hoher Wert, und so habe ich getan, was richtig war, für mich. Was er mir über einen anderen Menschen sagte, hat mich sehr entsetzt, ich habe darüber sogar mit Vertrauenspersonen im Unternehmen gesprochen. Tja. Alle auf seiner Seite bzw., es gab keine Konsequenzen. Kein Wunder, ein hohes Tier mit viel Macht.
Dem Mann sagte ich, was der Chef einst sagte, und er spuckte auf den Boden und meinte, was für ein Abschaum.
Ab da waren wir wohl Freunde 😀
Wir verabschiedeten uns, denn ihm wurde kalt, da er ja stand statt zu rechen, und wir werden uns sicher wieder sehen und uns dann freuen.
Ich lief dann beschwingt, innerlich erfreut und irgendwie ein bisschen “voller in der Seele” nach Hause. Erstaunt wie ein Kind, das merkt, wenn es immer wieder etwas bestimmtes macht, immer wieder das gleiche passiert. Lernen on the go.
Was wirklich zählt
Ich sag mal so, anderen mag das trivial vorkommen. Für mich war es ein weiteres Bild im Mosaik meines Lebens, der mir zeigte, wie ich WIRKLICH bin. Offen, neugierig, interessiert, und nicht jeder lehnt mich ab, auch wenn mein Hirn mir das gerne einreden will.
Ich mache immer häufiger diese Dinge – Menschen ein Kompliment, Kassiererinnen mit Namen ansprechen und ehrlich zulächeln, Fremde mit Hund ansprechen, zunicken, Gespräche suchen. Und es stretcht mich. Es lässt mich wachsen, mich kennen lernen.
Jedes Mal lernt mein System: Keine Gefahr!

Neuroplastizität in der Praxis
So überschreibe ich meine Kindheitserfahrungen nicht, aber ich setze neue daneben, damit die alten ihr Gewicht verlieren. Neuroplastizität wäre hier das Stichwort.
Unser Gehirn lernt durch Wiederholung. Jedes Mal, wenn ich eine positive Erfahrung mit fremden Menschen mache, werden neue neuronale Verbindungen gestärkt. Die alten Angst-Bahnen aus der Kindheit werden nicht gelöscht, aber sie verlieren an Dominanz, weil die neuen, positiven Bahnen breiter und stärker werden. Es ist wie ein Trampelpfad im Wald, der zuwächst, weil daneben ein neuer, besserer Weg entsteht, den ich immer wieder gehe.
Was wäre passiert, wäre er nicht drauf eingegangen? Nun, nicht viel. Ein weiteres Übungsfeld. Hätte er mich angeranzt oder ignoriert, hätte ich üben können, meinem System zu sagen „Alles gut, wir sind in Sicherheit.“ Auch das gehört dazu.
Was du mitnehmen kannst
Was nimmst du daraus mit? Keine Ahnung, sag es mir gerne 😀
Vielleicht – kleine Schritte. Offen sein. Neugierig. Erwartungslos. Und so machst du Erfahrungen, die dir Sicherheit vermitteln, neue Erfahrungen bescheren, dich am Rande der Komfortzone stehen lassen und merken: oha, die Welt geht nicht unter, und schwups, wird die Komfortzone etwas größer.



Danke für diesen wertvollen Einblick. Ich nehme mit, dass es nicht nur mir so geht mit den Gesprächen. Dass jedes Gespräch nur ein kurzer Augenblick von vielen ist und wenn es seltsam lief beim Gegenüber sicher nicht so lange hängenbleibt wie ich es in meinem Kopf rumwälze. Vor allem aber, das jedes Gespräch das Potential hat ein gutes zu werden.
Danke, das hast du toll zusammengefasst. Jedes Gespräch hat das Potential, ein gutes zu werden. Dahin musste ich mich erst „trainieren“, aber nun ist es echt toll 🙂