Werte sind für mich keine Dekogegenstände, die ich je nach Saison austausche – heute Kürbis, morgen Zuckerstange, übermorgen knuffige Hasen. Werte sind für mich die Leitplanken meiner Gedanken, der Boden für meine Entscheidungen, die Basis für meine Handlungen. „Ehrlichkeit, Respekt, Liebe“ mögen valide sein, aber auf der (zugegebenermaßen) langen Identifikationsreise habe ich gemerkt: reicht mir nicht. Zu breit, zu unspezifisch, und sollten das nicht die Grundwerte jedes Menschen sein – irgendwie selbstverständlich?
In den letzten Jahren habe ich schon oft nach meinen Werten gelebt, ohne sie so genau benennen zu können. Nun halte ich sie schwarz auf weiß, durch die Finger auf meiner beleuchteten Tastatur, fest.
Denn Werte sind wie ein inneres Rückgrat. Und gerade heute brauche ich es vielleicht mehr denn je. Meine Werte (neben den „Basics“) sind: Integrität, Selbstwirksamkeit und Neugier. In den folgenden Zeilen nehme ich dich mit, warum genau diese, wie ich sie verstehe und wie sie sich in meinem Leben auswirken.
Integrität

„Versprechen muss ich halten“ und „Prinzipien über Personen“ – diese beiden Sprüche prägen mich. Das erste seit Kindestagen, das zweite seit fünf Jahren.
Ich verspreche nur Dinge, von denen ich mit 99-prozentiger Sicherheit weiß, dass ich sie halten kann. Das fehlende Prozent ist nur dafür da, falls ich eher sterbe, als ich es einlösen kann. Das bringe ich schon meinem Kind bei, und ich habe ihm gegenüber noch nie ein Versprechen gebrochen.
„Prinzipien über Personen“ ist ein Teil einer Tradition der Anonymen Alkoholiker. Ich habe das lange Zeit nicht richtig verstanden, bis es irgendwann mal geklickt hat: Prinzipien sind persönliche Leitlinien oder Grundsätze. Die können ätzend sein („ich mache das aus Prinzip so“), und so meine ich sie nicht! Prinzipien über Personen bedeutet für mich, dass ich manche Dinge durchziehe, unabhängig davon, welcher Mensch damit verbunden ist. Zugegebenermaßen muss ich da etwas flexibel sein, weil naja… Manche Prinzipien sollte ich beim Chef nicht unbedingt durchziehen, you know? 😀 Prinzipien halte ich auch höher als mein eigenes Ansinnen, was eben gerade bei AA hinsichtlich der Anonymität extrem wertvoll ist.
Was Integrität wirklich bedeutet
Integrität ist ein Wort, das oft benutzt wird, wenn Menschen über „Anstand“ oder „Moral“ sprechen, doch es gräbt tiefer. Es bedeutet, im Einklang zu stehen: mit sich selbst, mit seinen Werten, und mit dem, was ich tue, wenn keiner zuschaut. Das lateinische integer heißt „unversehrt“, „ganz“. Integrität ist also kein moralischer Zeigefinger, sondern Ganzheit. Kein Riss zwischen dem, was ich denke, sage und tue.
In einer Welt, die laut brüllt, schnell rotiert und voller Masken und Selbstdarstellung steckt, ist Integrität fast schon ein Akt des Widerstands. Sie verlangt, dass ich Nein sage, wo andere zustimmen, weil es bequemer ist. Sie zwingt mich, mich selbst anzuschauen – insbesondere die hässlichen Teile – und trotzdem nach meiner Wahrheit zu handeln. Denn ich muss mit mir leben können.
War das schon immer so?
Nicht integer war ich, als ich auf den Heiratsantrag meines Ex-Mannes mit Ja antwortete. Und als ich auf dem Standesamt in Witzenhausen (kein Witz :D) ja sagte. Integer war ich, als ich die Scheidung alleine bezahlte – ging ja von mir aus.
Nicht integer war mein Ex, als er beim Gelübde versprach „ich würde alles für euch tun“, und es dann nicht tat.
Gerade aus dieser Beziehung habe ich gemerkt, wie krass relevant das Zusammenpassen von Worten und Taten für mich ist. Taten wiegen schwerer als Worte, sie brennen sich tiefer ein. Und als ich dieses Defizit nicht mehr aushielt, zerbrach der „heilige Bund“. Nun, es heißt doch: was zusammengehört, kann Gott nicht trennen. Das Trennen ging verdammt leicht… (Fang damit an, was du willst :D)
Meine Integrität hat mich Freundschaften gekostet. Im Nachgang war das okay, währenddessen schmerzhaft. Und vielleicht wirkt es auf manche krass oder übertrieben, aber wer AfD wählt, populistischen, rechten Scheißdreck labert oder absurden Verschwörungstheorien blind nachläuft, der passt nicht in meine Welt. Auch wenn es weh tut (mir) oder unverständlich erscheint (anderen).
Ganz früher gab es Momente, in denen ich auch meinem Hund gegenüber unfair, gewaltsam, zu hart war. Ja, ich wusste es nicht besser. Aber gefühlt habe ich, dass es scheiße war, was der Hundetrainer mir riet. Ich hatte halt mehr Angst vor dem Trainer als Mut, für mich und meinen Hund einzustehen. Ich durfte an ihm sehr viel lernen, aber ja – fair war es nicht, und ich habe mich gehörig geschämt, umgeschwenkt und, ich hoffe, das Unrecht wieder gutgemacht, soweit das gehen kann.
Dass ich mich von Instagram verabschiedet habe, ist ein weiterer Akt der Integrität, hier habe ich darüber geschrieben.
Integrität ist unbequem – für mich selbst und für andere. Aber sie ist unverzichtbar für meinen inneren Frieden, für meine Ruhe, meinen Nachtschlaf und einen ehrlichen Blick in den Spiegel.
Integrität in Aktion
Nelson Mandela verkörperte Integrität beispielhaft: 27 Jahre Gefängnis, und er kam ohne Bitterkeit heraus. Er hätte Rache wählen können. Stattdessen wählte er Versöhnung, weil er seine Werte (Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschlichkeit) nicht verriet. Integrität bedeutete für ihn, dass Freiheit nicht nur für Schwarze gilt, sondern auch für seine ehemaligen Peiniger.
Greta Thunberg verkörpert Integrität auf moderne Weise. Sie lebt, was sie sagt. Sie verzichtet auf Flugreisen, kritisiert offen Machtstrukturen, nimmt Spott und Hass in Kauf. Du musst ihre Positionen nicht teilen, um anzuerkennen: Sie bleibt konsistent.
Bryan Stevenson, der US-Anwalt, der sich für unschuldig Verurteilte einsetzt, steht für Integrität, weil er sich nicht vom Zynismus des Systems anstecken lässt. Er sagt: „We all need mercy, we all need justice, and – perhaps – we all need some measure of unmerited grace.“ Integrität heißt hier: das System durchschauen, aber Mensch bleiben.

Wenn Integrität fehlt
Elizabeth Holmes, Gründerin von Theranos, ist ein Lehrstück über das Gegenteil. Ihr Unternehmen versprach, Bluttests zu revolutionieren, aber sie täuschte Investoren, Patienten, Mitarbeitende. Integrität hätte bedeutet, Fehler einzugestehen, statt sie zu vertuschen.
Donald Trump (den Vogel verlinke ich nicht mal) demonstriert, was passiert, wenn Macht wichtiger wird als Wahrheit. Integrität verlangt die Fähigkeit zur Selbstreflexion, und genau daran scheitern Menschen, die sich selbst als Marke verkaufen, bis sie an der Fassade ersticken.
Auch im Alltag zeigt sich das: Die Führungskraft, die „Teamgeist“ predigt, aber Mitarbeitende übergeht (dir kommt bestimmt jemand in den Sinn…). Die Influencerin, die von Authentizität schwärmt, aber Filter über ihr Leben legt. Tiersportler, die von Liebe schwadronieren, um dann durch Prügelvideos entlarvt zu werden. Integrität kollabiert nicht laut, aber spürbar, sobald der Lärm verstummt. Ich wette, wenn du mal nachdenkst, fallen dir ein, zwei, fünf Personen ein, deren Namen nicht mit dem Wort „Integer“ in einen Satz passen, oder?
Integrität als leises Rückgrat
Integrität hat nichts mit Fehlerlosigkeit oder Perfektionismus zu tun. Im Gegenteil. Sie zeigt sich gerade in den Momenten, wo ich Fehler mache und sie offen benenne. Integrität ist, wenn ich mich entschuldige, statt mich zu rechtfertigen. Wenn ich sage: „Ich hab’s verkackt“, und dann neu ausrichte.
So habe ich mal in einem früheren Arbeitsverhältnis einen recht kostspieligen Fehler gemacht. Sobald ich ihn bemerkte, setzte ich alles in Bewegung und kommunizierte offen darüber. Das verhinderte Schlimmeres, und ich erntete dafür Respekt, sogar Bewunderung. Und bei Gott, das war kein geiles Gefühl, als ich bemerkte, wie ich verkackt hatte. Gleichzeitig war fehlende Integrität bei meinen Vorgesetzten ein Grund für mich, dort später zu kündigen. (Ich lüge nicht für deine innerbetriebliche Karriere, R. Merk dir das.)
Integrität ist auch der Moment, in dem ich etwas ablehne, das nach außen glänzt, aber sich innen falsch anfühlt. (Uh, hat ein Personalchef gar nicht verstanden, der mir einen tollen Job anbot und ich nach zwei Gesprächen meinte, da will ich nicht arbeiten, da es gegen meine Werte geht.) Integrität ist keine Pose, sondern eine Praxis, ein tägliches Justieren. Und manchmal merke ich: huch, das war knapp. Oder ich arbeite dagegen. Es ging bisher immer schief, wenn ich das tat. (Mein Scheidungsanwalt hat sich gefreut.)
Integrität hat wie so vieles im Leben einen Preis: Karrierechancen, Likes, Zugehörigkeit. Aber sie gibt dafür etwas zurück, was unbezahlbar ist: Selbstachtung. Und die Achtung anderer Menschen.
Neulich war eine Freundin mega erstaunt, dass ich mein Versprechen hielt, Einhornmuffins zu backen. Wie oft hat sie wohl mit Menschen zu tun gehabt, die Versprechen brachen? Es war fast traurig, wie erfreut und erstaunt sie war. Auch weiß mein Kind sehr oft (gewiss aber nicht immer :D), woran es bei mir ist. Weil ich nicht nur labere, sondern mache. Weil integre Menschen auch zuverlässig sind. Nicht wahr?

Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit ist vielleicht kein klassischer moralischer Wert wie Integrität oder Gerechtigkeit, aber sie ist ein existenzieller Wert. Einer, der mein gesamtes Erleben färbt. In der Psychologie beschreibt Albert Bandura Selbstwirksamkeit als das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, etwas zu bewirken – also die innere Überzeugung: Ich kann etwas verändern.
Selbstwirksamkeit ist das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit.
Für mich ist gelebte Selbstwirksamkeit mehr als ein Gefühl, sie ist eine Haltung. Ich begreife mich als selbstwirksam, da ich Verantwortung für mein eigenes Leben übernehme, statt darauf zu warten, dass andere es richten. Sie ist das Gegenteil von Ohnmacht, Opferrolle und Fremdbestimmung. Und sie hat eine erstaunlich spirituelle Dimension – weil sie das „Ich kann“ mit einem tiefen „Ich darf“ verbindet.
In einer Gesellschaft, die uns ständig einredet, wir müssten mehr leisten, schlauer, schöner, reicher sein, ist echte Selbstwirksamkeit fast schon rebellisch. Sie bedeutet nicht, alles selbst stemmen zu müssen, sondern zu erkennen, wo ich Einfluss habe, und dort aktiv zu werden. Es geht ums Gestalten, nicht ums Kontrollieren.
Du könntest es so sehen: Integrität ist das Warum (meine innere Ausrichtung). Selbstwirksamkeit ist das Wie (meine Handlungskraft). Ohne Integrität werde ich ziellos. Ohne Selbstwirksamkeit bleibe ich ohnmächtig.
Wie war das früher?
Ich war nicht immer so unterwegs. Und ich glaube, nur ganz wenige Menschen haben ein selbstwirksames Leben als „Default-Setting“. Einem Kind wird das oft abgesprochen, zum Teil vielleicht sogar berechtigterweise. Eine Haltung entwickelt sich, aber wenn wir den Kindern die Chance nehmen, überhaupt erst eine Haltung zu entwickeln, dürfen wir uns dann wundern, wenn sie Fähnchen im Wind werden?
Es ist ja nicht gerade so, dass das deutsche Schulsystem das fördert. Kinder sind die einzigen, die diesem System nicht entkommen können – sie können nicht kündigen. Sie sind so dermaßen fremdbestimmt, dass es schon gewaltvoll ist (was kaum jemand gerne sehen möchte, hier ein mega gutes Buch zu diesem Thema). Für diese Fremdbestimmung braucht es nicht mal Fremdbetreuung. Und das soll jetzt kein Eltern-, Erzieher-, Lehrerbashing werden, oh no! Aber als Kind, wie selbstwirksam hast du dich gefühlt in deinen Möglichkeiten? Siehste.
Ich mag mich wiederholen, aber erst seit ich trocken bin und mich intensiv mit mir auseinandergesetzt habe, geheilt habe, was mir zugänglich war, konnte ich Verantwortung für mich übernehmen. Ich habe das auch erst im Rückblick erkennen können, wie gut ich darin wurde – und auch, wie verwirrend das für mein Umfeld bisweilen war. Es mag logisch erscheinen, dass ein dauerbenebelter Kopf alles andere als selbstwirksam ist. Aber anfühlen tut es sich so nicht.
Ich habe da auch nicht immer Bock drauf. Die Haltung, mit der ich durchs Leben gehe, ist auf gewisse Art auch irgendwie… anstrengend. Da gibt es viel Unverständnis, Gegenwind und Verunsicherung. Gleichzeitig ist es so wertvoll und schön, das endlich gerafft zu haben. Und übrigens: Auch mit AuDHS ist mir das möglich. VIELLEICHT sogar gerade deswegen?
Menschen mit gelebter Selbstwirksamkeit
Viktor Frankl, der Psychiater und Holocaust-Überlebende, hat sie in ihrer reinsten Form verkörpert. In den Konzentrationslagern erkannte er, dass du einem Menschen fast alles rauben kannst, außer die Freiheit, auf eine Situation zu reagieren. Das ist Selbstwirksamkeit unter extremsten Bedingungen.
Malala Yousafzai ist ein aktuelles Beispiel. Sie wurde von den Taliban angeschossen, weil sie für Bildung kämpfte und weiter machte! Sie verkörpert die Überzeugung: Ich bin klein, aber nicht machtlos.
Greta Thunberg passt auch hier. Integrität und Selbstwirksamkeit sind bei ihr zwei Seiten derselben Medaille. Sie handelt nicht, weil sie glaubt, dass sie allein die Welt rettet, sondern weil sie weiß, dass Handeln besser ist als Stillstand.
Und auf einer anderen Ebene: Stephen Hawking. Sein Körper war nahezu gelähmt, aber er definierte Wirksamkeit neu. Er zeigte, dass Grenzen nur dann endgültig sind, wenn ich sie akzeptiere.

Wenn Selbstwirksamkeit fehlt
Wenn Selbstwirksamkeit fehlt, ist Faulheit das falsche Wort. Erlernte Hilflosigkeit trifft es viel präziser. Dieses dumpfe Gefühl: egal was ich tue, es bringt nichts. (Kinder, anyone?) Gesellschaftlich sehen wir das bei genau den Menschen, die in Systemen stecken, die ihnen Machtlosigkeit einflößen: Schule, Behörden, toxische Arbeitskulturen, Missbrauchsstrukturen.
Fehlende Selbstwirksamkeit ist meiner Meinung nach kein persönliches Versagen, sondern oft das Ergebnis von Dauer-Ohnmacht. Aber sie zu verlieren, heißt, mich selbst aus der Gleichung des Lebens zu streichen. Und noch tragischer ist es, es dabei zu belassen. Nicht jeden Kampf muss ich kämpfen. Manche aber vielleicht schon.
Selbstwirksamkeit als Wert
Ich glaube daran, dass ich Einfluss habe: auf mich, auf mein Umfeld und auf die Welt. Ich übernehme Verantwortung, anstatt mich ohnmächtig zu fühlen. Ich bin Gestalterin, nicht Zuschauerin. Das klingt groß, gruselig, größenwahnsinnig. Aber nur für die, die Selbstwirksamkeit nicht kennen.
Als Wert gelebt, führt Selbstwirksamkeit zu Klarheit, Selbstvertrauen und Würde. Sie ist die Brücke zwischen Vision und Handlung. Oder kurz: das, was mich morgens wirklich aufstehen lässt.

Neugier
Neugier ist für mich kein Wissensdurst (mehr), sondern eine Haltung. Eben eine Art Gier nach Neuem, aber ohne die Härte, die das Wort „Gier“ normalerweise trägt. Es ist eher ein Hunger nach Verstehen, ein Appetit auf Perspektiven, ein unstillbares „Was wäre, wenn…?“
Neugier hält mich offen – für Menschen, für Situationen, für mich selbst. Durch Neugier habe ich gelernt, weniger zu werten. Wenn jemand einen dummen Kommentar ablässt, muss ich nicht mehr in den Verteidigungsmodus springen. Ich betrachte es stattdessen so neugierig wie ein Kind einen Marienkäfer: Uiiiii, ahaaaaa, spannend, was passiert da wohl gerade?
Diese Haltung bringt eine Ruhe in mein Leben, die ich früher nicht kannte. Neugier lässt mich verstehen, anstatt zu verurteilen und zu spekulieren. Sie schafft Abstand, ohne Kälte. Nähe, ohne Drama. Und sie macht mich weicher.
Die sanfte Revolution in mir
Wie hart war ich doch früher mir selbst gegenüber. Durch offene Neugier wurde ich durchlässiger, auch und insbesondere für meine Gefühle. Wenn ich etwas vermassle, frage ich nicht mehr sofort: „Was stimmt nicht mit mir?“, sondern eher: „Na huch, was war da los? Was kann ich daraus lernen?“
Durch eine neugierige Haltung verwandeln sich vermeintliche Fehler in Forschungsobjekte. Und das, ganz ehrlich, ist die eleganteste Form von Gelassenheit, die ich kenne.
Neugier ist außerdem einer der Gründe, warum ich mein AuDHS und meine Suchterkrankung heute so annehmen kann. Früher war da viel Kampf, viel Bewertung, innen wie außen. Heute beobachte ich mich oft einfach nur: interessiert, nicht abwertend. Ich will verstehen, nicht kontrollieren. Und das fühlt sich selbstwirksam und integer an. Eine Verbindung, die meine drei Werte miteinander verwebt.
Neugier – der rebellischste Wert von allen?
Philosophisch betrachtet ist Neugier die kleine Schwester des Staunens, von dem Aristoteles sagte, es sei der Ursprung allen Wissens. Während Staunen mir die Welt in ihrer Schönheit zeigt, treibt Neugier mich dazu, hineinzukriechen, sie umzudrehen, zu hinterfragen. Sie ist ein innerer Motor, der nie ganz stillsteht.
Neugier ist der Anfang von allem, was sich je bewegt hat: jede Entdeckung, jede Revolution, jedes „Was, wenn…?“ in der Geschichte. Ohne Neugier gäbe es keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Weiterentwicklung, nur Routine, Wiederholung und Langweile.
Neugierig durchs Leben zu gehen beinhaltet diesen Grundgedanken: Ich weiß nicht alles – und das ist wunderbar.
Neugier lebt von Offenheit und verlangt auch Mut (spannend, nicht wahr?). Denn wer neugierig ist, riskiert, Dinge herauszufinden, die unbequem sind (oh ja). Für mich ist echte Neugier kein Konsum von Neuem, sondern eine Haltung des Lernens. Selbst und insbesondere dann, wenn das Gelernte alte Überzeugungen sprengt.
Neugier als Kompass
Man könnte es so zusammenfassen: Integrität ist das Fundament, Selbstwirksamkeit der Motor, und Neugier ist das Navigationssystem.
Sie sorgt dafür, dass ich beweglich bleibe, dass ich nicht erstarre in meinen Wahrheiten. Neugier zwingt mich, immer wieder neu hinzuschauen. Sie ist das Gegenmittel gegen Dogmatismus und die beste Versicherung gegen Stillstand.
Als Wert formuliert, ist Neugier kein naives „immer Neues wollen“, sondern ein aktives Suchen nach Bedeutung: „Ich will verstehen. Ich will erleben. Ich will wissen, warum etwas so ist, wie es ist – und was noch möglich wäre, wenn es anders wäre.“
Das ist nicht nur intellektuelle Bewegung, sondern seelische. Neugier öffnet Türen im Kopf, aber auch im Herzen.
Menschen, die Neugier verkörpern
Leonardo da Vinci war wahrscheinlich das wandelnde Sinnbild davon. Maler, Ingenieur, Anatom, Erfinder – er konnte sich nicht nicht interessieren. Seine Notizbücher sind ein Liebesbrief an die Neugier, vollgekritzelt mit Fragen über Fragen.
Marie Curie, die als Frau in einer männerdominierten Wissenschaftswelt forschte, wurde von einer unbändigen Frage getrieben: Was ist Radioaktivität? Ihre Neugier kostete sie letztlich das Leben, aber sie brachte der Welt bahnbrechende Erkenntnisse.
Richard Feynman, der Quantenphysiker, machte aus Neugier fast eine Lebensphilosophie. Er sagte: „I would rather have questions that can’t be answered than answers that can’t be questioned.“ Lieber offene Fragen als geschlossene Wahrheiten. Das trifft es.
Und David Attenborough, noch lebend, zeigt bis heute: Neugier altert nicht. Er ist über 90 und staunt noch immer über Käfer, Quallen und Korallen, als sähe er sie zum ersten Mal. Diese kindliche Begeisterung, die nie versiegt – das ist gelebte Neugier.

Wenn Neugier fehlt
Ohne Neugier erstarrt Leben zu Routine. Ich wiederhole, statt zu entdecken. Dogmen, Ideologien und Angstkulturen nähren sich aus dem, was ich „Neugierdeflucht“ nenne. Sie erwächst aus dem Versuch, Unsicherheit durch Kontrolle zu ersetzen.
Wenn ich aufhöre, Fragen zu stellen, beginne ich, alles zu glauben.
Neugier ist also nicht Spielerei, sondern eine Form von Freiheit. Sie bricht Mauern auf, auch die inneren. Sie erlaubt mir, zu lernen, mich zu verändern, zu irren, zu wachsen. Und sie schützt vor Zynismus – dem vielleicht tödlichsten Gegenspieler von Lebendigkeit.
Gesellschaftlich sehen wir das Fehlen von Neugier überall: in Filterblasen, in denen Menschen nur noch hören wollen, was sie ohnehin glauben. In Schulen, die Antworten verlangen statt Fragen zu fördern. In Beziehungen, die sich totlaufen, weil keiner mehr nachfragt: „Wie geht es dir wirklich?“
Neugier als Wert
Neugier ist mein Schutzschild gegen Erstarrung. Sie hält mich beweglich, auch wenn das Leben hart wird. Sie erinnert mich daran, dass ich nie fertig bin – und dass das okay ist.
Werte, AuDHS und das Werden
Eines noch: Diese drei Werte sind meine jetzigen Werte. Sie haben sich herauskristallisiert, geschliffen durch Erfahrung, Schmerz, Heilung und verdammt viel Selbstreflexion. Aber ich bin nicht naiv genug zu glauben, dass sie in Stein gemeißelt sind. Werte dürfen sich wandeln. Sie dürfen wachsen, schrumpfen, sich verschieben. Vielleicht sieht die Gewichtung in 5 Jahren anders aus, andere Werte rücken in den Vordergrund. Wer weiß?
Und natürlich gibt es noch mehr Werte, die mich prägen: Verbindlichkeit, Authentizität, Mut, Mitgefühl. Aber diese drei – Integrität, Selbstwirksamkeit, Neugier – sind aktuell die Säulen, um die sich alles dreht. Die Essenz. Der Kern.
Was mich besonders fasziniert: Wie sehr diese Werte mit meinem AuDHS verwoben sind. Ich glaube nicht, dass ich trotz meines anders verschalteten Gehirns zu diesen Werten gefunden habe. Ich glaube, es war genau andersherum.
Integrität bedeutet für mich auch: das Ablegen von Masken. Jahrelang habe ich maskiert, mich angepasst, mich verbogen, um „normal“ zu wirken. Das hat mich ausgelaugt, zerstückelt, innerlich zerrissen. Erst als ich begann, integer zu leben – also ganz, unversehrt -, konnte ich auch mein AuDHS annehmen und offen damit umgehen. Integrität hieß: Ich höre auf, so zu tun, als wäre ich neurotypisch. Ich bin es nicht. So what.
Selbstwirksamkeit war der Gamechanger. Als ich meine Diagnose bekam oder meine Sucht anging, hätte ich in die Opferrolle rutschen können: „Ach, deshalb läuft alles schief, ich kann halt nichts dafür.“ Aber Selbstwirksamkeit bedeutete: Okay, mein Gehirn funktioniert anders. Was kann ich damit machen? Wie kann ich mir helfen? Wie gestalte ich mein Leben so, dass es für mich passt, nicht für irgendeine Norm? Die Akzeptanz meiner Sucht und des AuDHS war nur der erste Schritt. Der zweite war das aktive Lernen, damit umzugehen, ohne Scham, ohne ständige Entschuldigung. Mit Neugier und Experimentierfreude.
Und Neugier? Sie ist vielleicht der direkteste Draht zu meinem AuDHS. Dieses ständige „Wie funktioniert das?“, „Was passiert, wenn…?“, „Warum ist das so?“ Das ist mein Gehirn in Reinform. Aber Neugier hat mir auch ermöglicht, mich selbst zu erforschen, statt mich zu bekämpfen. Sie hat aus meinem Anders-Sein ein Forschungsprojekt gemacht, kein Defizit. Neugier ist der Grund, warum ich heute auf meine Reizüberflutung schaue und denke: „Interessant, was triggert mich gerade?“ statt „Ich bin kaputt.“ Sie verbindet alle anderen Werte, weil sie die Voraussetzung für Wachstum ist.
Diese drei Werte sind also nicht nur Leitplanken für mein Handeln. Sie sind auch meine Art, mit mir selbst Frieden zu schließen. Mit meinem Gehirn, meiner Geschichte, meinem Anders-Sein. Sie helfen mir, nicht nur zu überleben, sondern zu leben: laut, bunt, manchmal zu viel, manchmal zu wenig.
Wenn ich heute auf diese drei bedeutungsschweren Worte schaue, dann sehe ich ein Dreieck, das mich trägt. Keiner dieser Werte steht allein. Sie stützen sich gegenseitig, verstärken sich, halten mich aufrecht.
Integrität gibt mir das Fundament: Wer bin ich, wofür stehe ich?
Selbstwirksamkeit gibt mir die Kraft: Was kann ich tun, wie gestalte ich?
Neugier gibt mir die Richtung: Wohin will ich, was gibt es noch zu entdecken?
Und vielleicht ist das der Punkt: Werte sind kein Dekozeug, das ich aufhänge und dann vergesse. Sie sind lebendige Entscheidungen, tägliche Praxis, manchmal unbequem, und Ausdruck meines Seins. Sie sind das Rückgrat, das mich hält, auch wenn alles andere wackelt.
Und das, finde ich, ist verdammt wertvoll.
Falls du diese und ähnliche Werte teilst, freue ich mich mega, wenn du mit in die Lost Unicorn Society kommst. Das ist ein ortloser Raum für Menschen auf dem neurodivergenten Spektrum. Eine Community mit tollen Werten, Menschen und Impulsen. Vielleicht genau das, was dir noch fehlt. Ich freue mich auf dich!
