Dies ist Teil 5 meiner Reihe „Neurodivergent verstehen“. Hier gehe ich erst auf ein paar Basics ein um dann bei ADHS, Autismus und AuDHS genauer hinzuschauen. 

In Teil 1 ging es um Sprache, in Teil 2 um Dopamin, in Teil 3 um die Task Paralyse, und in Teil 4 um Impulsivität vs Hyperaktivität.


Wenn jemand hörbar neben mir trinkt, starken Körpergeruch (egal ob angenehm oder unangenehm) hat, das Geschirr nach dem Essen auf dem Tisch stehen bleibt und der Raum nach Essen riecht, meine Schnürsenkel nicht gleich fest sind, zu viele Menschen auf einmal reden, oder zu laut, oder zu leise, stresst mich das. Auch, wenn mir jemand körperlich zu nahe kommt, den ich nicht dolle mag, klebrige Kinderhände, der zu enge Zopf, die schief sitzende Brille, Belag auf den Zähnen, eine nicht unerhebliche Menge an Nahrungsmitteln. Ich höre hier mal auf.

Mein Körper spannt sich an, ich werde gereizt. nervös, oder dissoziiere mich aus der Situation, je nach Intensität. Ich dachte jahrelang, das wäre bei allen so. Naja, offenbar nicht.

Lange Zeit hielt ich mich einfach für „empfindlich“, „zickig“ oder „zu anspruchsvoll“. Bis ich verstand: Das ist nicht Überempfindlichkeit. Das ist sensorische Sensibilität und ein verdammt realer Teil von Neurodivergenz, AuDHS.


Die „Ist das bei dir auch so?“-Checkliste

Symbolbild Reizüberlastung Frau an Laptop in einfachen schwarzen Strichen die sich den Kopf hält

Bevor wir tiefer eintauchen, hier eine kleine Reality-Check-Liste. Wenn du bei mehr als der Hälfte nickst (oder denkst, fast, aber mit xy): Schön, dass du da bist!

Das Ticken einer Wanduhr klingt wie ein Presslufthammer in deinem Gehirn
Kleidungsetiketten sind der Feind und müssen sterben
Du kannst riechen, dass jemand drei Räume weiter eine Kerze angezündet/gefurzt/nicht geduscht hat
Bestimmte Stoffe fühlen sich auf deiner Haut an wie Schmirgelpapier
Menschen, die beim Kauen schmatzen, sind deine persönlichen Endgegner
Flackerndes Neonlicht ist nicht nervig, es ist Folter. Du siehst es nicht nur, du hörst es
In Restaurants mit vielen Stimmen verstehst du kein Wort mehr
Du bumst ständig gegen Möbel (aka tollpatschig, unaufmerksam..)
Gewichtete Decken sind deine Religion
Du kannst nicht stillsitzen, weil dein Körper nach Bewegung lechzt
Nach einem Tag im Einkaufszentrum fühlst du dich, als hättest du einen Marathon gelaufen
Manchmal brauchst du einfach nur STILLE und DUNKELHEIT, oder du explodierst
□ Das Summen von Elektronik (Lampen, Kühlschrank, Laptop-Lüfter) macht dich wahnsinnig
□ Wenn jemand beim Atmen hörbar durch die Nase pfeift, möchtest du fliehen oder schreien
□ Der Geruch von Waschmittel, Parfüm oder „Febreze“ haut dich um, noch bevor du Hallo sagen kannst
□ Menschen, die in der Bahn oder im Büro laut tippen, lösen in dir eine Urwut aus
□ Du kannst keine Gespräche führen, während Musik läuft
□ Du fühlst dich nach einem Friseurbesuch sensorisch überfahren
□ Du brauchst ewig, um dich an neue Bettwäsche, neue Gerüche oder neue Möbel zu gewöhnen
□ Du kannst keine synthetischen Stoffe tragen, weil du das Gefühl hast, deine Haut würde ersticken
□ Wenn Licht, Geräusch und Geruch gleichzeitig „zu viel“ sind, möchtest du einfach aus deinem Körper aussteigen
□ Du erschrickst überproportional bei plötzlichen Geräuschen
□ Du bist süchtig nach „sensorisch sicheren“ Routinen: dieselbe Tasse, derselbe Pulli, dieselbe Playlist

Wenn du jetzt denkst: „Scheiße, das bin ja ich“: Danke für deine Ehrlichkeit, lies bitte weiter. Es wird erhellend. Denn du bist nicht allein damit. Und erinnere dich bitte daran: Neurodivergenz ist ein Spektrum.


Was zum Teufel ist eigentlich sensorische Sensibilität?

Lass uns das mal entmystifizieren: Sensorische Sensibilität bedeutet im Grunde, dass dein Gehirn sensorische Inputs, also alles, was du siehst, hörst, riechst, schmeckst, fühlst. intensiver verarbeitet als das durchschnittliche neurotypische Gehirn.

Stell dir dein Gehirn wie einen Nachtclub-Türsteher vor. Bei neurotypischen Menschen macht dieser Türsteher einen verdammt guten Job: Er lässt die wichtigen Infos rein („Achtung, Auto!“) und hält den unwichtigen Kram draußen („Das Summen des Kühlschranks kannst du ignorieren“).

Bei neurodivergenten Gehirnen? Der Türsteher ist entweder auf Klo, betrunken, oder er hat innerlich gekündigt und sagt: „Fuck it, alle rein!“ Das Ergebnis: Ein sensorischer Tsunami von Informationen, die alle gleichzeitig und mit voller Lautstärke auf dein Bewusstsein einprasseln.

Und genau hier wird’s kompliziert und interessant.


Bild eines Gehirns, wie aus Knete hergestellt, dass einen Baum imitiert, bunte Farben, Stamm

Warum ist das so? Ein kurzer Blick ins Gehirn

Okay, aber warum arbeitet dieser beschissene Türsteher in unserem Gehirn nicht richtig? Lass uns kurz ins Innere schauen (keine Sorge, ich halte es verdaulich).

Das Problem liegt in der abweichenden Verarbeitung und Filterung sensorischer Informationen im zentralen Nervensystem. Konkret:

Das Filter-Defizit: Im neurotypischen Gehirn sortiert ein ausgeklügeltes System wichtige von unwichtigen Infos. Bei neurodivergenten Gehirnen ist dieser Filterprozess gestört (oder anders gesagt “atypisch”). Die Infos strömen nahezu ungehindert rein: der sensorische Tsunami, den wir bereits kennen. Ich sage tatsächlich oft “mir fehlen halt irgendwelche Filter”. Weniger im Melitta-Sinne, mehr im Aussortier-Sortier-Sinne.

Lass uns kurz die neurobiologische Ursachen anschauen, denn die Wissenschaft hat einige spannende Erkenntnisse dazu:

  • Ungleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung: Dein Gehirn hat Schwierigkeiten, neuronale Signale richtig zu dämpfen oder zu verstärken. (Also: Dein Gehirn kriegt’s einfach nicht gebacken, die Lautstärke zu regeln, alles ist entweder Disco oder Totenstille.)
  • Atypische Konnektivität: Die Verbindungen zwischen Gehirnregionen arbeiten anders. Bei Autismus sieht man oft eine Unterkonnektivität in weitreichenden Netzwerken (die Regionen „reden“ weniger miteinander) und Überkonnektivität in lokalen Schaltkreisen (zu viel Aktivität in einzelnen Bereichen).
  • Neurotransmitter-Chaos: Bei ADHS spielt der Dopamin-Mangel eine Hauptrolle. Dein Gehirn sucht ständig nach dem „besseren Dopamin-Deal“, weshalb sensorische Suche (Sensory Seeking) eine Überlebensstrategie wird.

Die Insula und Interozeption: Ein besonders interessanter Spieler ist die Insula, eine Gehirnregion, die für die Wahrnehmung innerer Körpersignale (Hunger, Durst, Spannung) zuständig ist. Bei Neurodivergenz zeigt sie oft widersprüchliche Muster:

  • Hypoaktivität bei externen emotionalen Reizen (Gesichtsausdrücke werden schwächer verarbeitet)
  • Hyperaktivität bei direkten physischen Empfindungen (übermäßige Fokussierung auf körperliche Sensationen)

Das erklärt, warum viele von uns gleichzeitig hypersensibel auf physische Reize reagieren, aber Schwierigkeiten haben, emotionale Signale von außen zu lesen.

Autonomes Nervensystem: Dein Nervensystem scannt unbewusst die Umgebung auf Sicherheit oder Gefahr (das nennt sich Neurozeption). Bei sensorischen Sensibilitäten werden harmlose Stimuli (wie unvorhersehbare Geräusche oder Licht) fälschlicherweise als Bedrohung interpretiert. Dein Körper aktiviert dann Schutzreaktionen: Shutdown oder Meltdown. Das ist nicht “psychologisch mangelhaft”, das ist physiologisch im Nervensystem verankert. Haste keinen direkten Zugriff drauf.

Kurz gesagt: Dein Gehirn ist nicht kaputt. Es arbeitet einfach mit einem anderen Betriebssystem. Und dieses Betriebssystem wurde für eine Welt entwickelt, die es so nicht gibt.


Die zwei Gesichter der Sensitivität: Zu viel vs. Zu wenig

Sensorische Unterschiede sind nicht schwarz-weiß. Es gibt zwei Hauptformen, und (Spoiler Alert) viele von uns erleben beide gleichzeitig. Ja, die Frage, warum das Gehirn manchmal so ein Arschloch ist, ist berechtigt, ich habe aber keine nette Amtwort drauf. Außer: Ich glaube fest daran, dass die Evolution sich was dabei gedacht hat.

abstraktes Bild eines Gehirns im Doodlestil, dass sehr gereizt wirkt, erschöpft von sensorischen Eindrücken

1. Hypersensitivität: Wenn alles ZU VIEL ist

Hypersensitivität bedeutet, dass dein Gehirn auf sensorische Inputs überreagiert wie ein Rauchmelder, der schon bei einem leicht angekokelten Toast Alarm schlägt.

Beispiele gefällig?

Auditiv (Hören): Das Ticken einer Wanduhr klingt wie ein Presslufthammer in einer Bibliothek. Menschen, die beim Kauen schmatzen, sind deine persönlichen Endgegner. Und in einem Restaurant mit vielen Stimmen? Dein Gehirn versucht verzweifelt, jedes einzelne Gespräch gleichzeitig zu verfolgen und scheitert grandios. Oder jemand trinkt hörbar. Schluck. Schluck. SCHLUCK. Und dein Gehirn schreit innerlich.

Visuell (Sehen): Flackerndes Neonlicht ist nicht einfach nur nervig, es fühlt sich an, als würde jemand direkt in dein Gehirn blitzen. Bildschirme ohne Blaulichtfilter? Folter. Zu viel visuelle Unordnung in einem Raum? Instant-Kopfschmerz. Eine schief sitzende Brille? Dein Gehirn kann an nichts anderes mehr denken.

Taktil (Tastsinn): Kleidungsetiketten sind der Feind. Bestimmte Stoffe fühlen sich an wie Schmirgelpapier auf Seele. Und wenn dich jemand unerwartet berührt? Alarmzustand im ganzen Körper. Klebrige Kinderhände? Nope. Zu enger Zopf? Kopfschmerzen garantiert. Schnürsenkel, die nicht gleich fest sind? Du kannst an nichts anderes denken.

Olfaktorisch (Geruch): Du kannst riechen, dass jemand drei Räume weiter eine parfümierte Kerze angezündet hat. Und es macht dich wahnsinnig. Starke Parfüms sind biologische Waffen. Keine Diskussion. Der Geruch von Essen, das auf dem Tisch stehen bleibt? Dein Gehirn ist im Panikmodus, bis es weg ist.

Gustatorisch (Geschmack): Bestimmte Texturen im Essen (breiig, körnig, schleimig) lösen einen Würgereflex aus, der nichts mit dem Geschmack zu tun hat. Es geht ums Mundgefühl, und ja, das ist ein Ding. Belag auf den Zähnen? Unerträglich. Sofort Zähne putzen oder wahnsinnig werden.

Unechter Computerwarnbildschirm, der fragt, ob man wirklich alle Gefühle löschen will

2. Hyposensitivität: Wenn dein Gehirn nach MEHR schreit

Auf der anderen Seite haben wir Hyposensitivität, die „Ich spüre nichts, gib mir mehr Input!“-Variante. Hier reagiert dein sensorisches System verzögert oder gar nicht, und du brauchst mehr, um dich reguliert zu fühlen.

Das nennt man dann Sensory Seeking (Sensorische Suche), und es sieht so aus:

Propriozeptiv (Körperwahrnehmung): Du bumst ständig gegen Möbel, nicht weil du tollpatschig bist, sondern weil dein Gehirn nach dem Feedback schreit. Gewichtete Decken sind deine besten Freunde. Umarmungen? Je fester, desto besser. Dein Körper braucht diesen Tiefendruck, um sich überhaupt zu spüren.

Vestibulär (Gleichgewicht): Schaukeln, drehen, wippen – du kannst nicht stillsitzen, weil dein Gehirn nach Bewegung lechzt wie ein Hamster im Laufrad.

Taktil: Du musst Dinge anfassen. Alles. Samtige Oberflächen, strukturierte Wände, das Fell deines Haustieres. Deine Hände sind immer auf der Suche nach Input.

Viele neurodivergente Menschen erleben beides gleichzeitig. Du kannst hypersensibel auf Geräusche reagieren, während du gleichzeitig nach taktilem Input suchst. Dein Gehirn ist ein widersprüchlicher Chaot. Die Evolution hat sich was dabei gedacht. Nur was?


Die sieben sensorischen Systeme: Eine kurze Tour durch die Hölle

Die meisten Menschen kennen die „Big Five“ der Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Aber es gibt noch zwei weitere, die oft übersehen werden:

Propriozeption: Deine Körperwahrnehmung im Raum. Wo sind deine Gliedmaßen? Wie viel Kraft brauchst du, um eine Tür zu öffnen? (Du weißt es oft nicht.)

Vestibuläres System: Dein Gleichgewichtssinn. Es sitzt in deinem Innenohr und sagt dir, ob du aufrecht stehst, dich bewegst oder ob die Welt sich dreht.

Alle sieben Systeme können bei Neurodivergenz betroffen sein. Und wenn mehrere gleichzeitig überfordert sind? Willkommen in der Sensory Overload – der sensorischen Überlastung.


Gezeichnetes Bild einer Frau, die vor einem Haufen Aufgaben, symbolisch dargestellt durch kleine Icons, wegrennt. Dazu der Text "Overloading"

Sensory Overload: Wenn das System crasht

Stell dir vor: Du bist in einem Supermarkt. Über dir flackern grelle Neonröhren, aus den Lautsprechern dudelt eine schreckliche Coverversion von „Despacito“, irgendwo quietscht ein Einkaufswagen mit kaputten Rädern, und die Person neben dir telefoniert lautstark über ihre Hämorrhoiden-OP. Während du versuchst, dich zu konzentrieren, kratzt das Etikett in deinem Shirt am Nacken wie ein aggressiver Miniatur-Gärtner mit einer Harke.

Für die meisten Menschen ist das nervig. Für neurodivergente Gehirne? Das ist die Hölle in HD mit Dolby Surround.

Sensorische Überlastung passiert, wenn zu viele intensive Inputs gleichzeitig auf dein Gehirn einprasseln und die Verarbeitungskapazität überschreiten. Stell dir vor, dein Gehirn ist ein Computer, und plötzlich öffnet jemand 200 Browser-Tabs gleichzeitig, startet drei Downloads und spielt ein 4K-Video ab. Was passiert? Der Computer friert ein, wird heiß, oder er crashed komplett.

Genau das passiert bei Sensorischen Overload. Dein Nervensystem sagt: „Nope, ich bin raus“ und reagiert entweder mit:

Shutdown: Du ziehst dich zurück, wirst non-verbal, kannst nicht mehr denken oder handeln. Die Welt wird zu einem verschwommenen Nebel, und du brauchst einfach nur STILLE. Das ist die Dissoziation, von der ich am Anfang sprach. Du bist körperlich anwesend, aber mental komplett ausgestiegen.

Meltdown: Das Gegenteil. Dein Nervensystem aktiviert sich, die Emotionen überschwemmen dich, und du kannst die Reaktion nicht kontrollieren. Weinen, Schreien, Panik – alles kommt auf einmal raus. Dein Körper spannt sich an, du wirst gereizt, explosiv.

Beide Reaktionen sind keine bewussten Entscheidungen. Das ist dein Gehirn im Überlebensmodus, nicht du als Person, die sich „nicht zusammenreißen kann“.


Sensory Burnout: Die Langzeitfolgen von zu viel Input

Wenn Sensory Overload der Kurzzeit-Crash ist, dann ist Sensory Burnout der schleichende, kumulative Systemzusammenbruch. Es entsteht durch anhaltenden, unkontrollierten sensorischen Stress: Tag für Tag, Woche für Woche, ohne ausreichende Erholung.

Das ist nicht einfach „Ich bin müde“. Das ist:

  • Kognitive Erschöpfung (dein Gehirn ist Matsch)
  • Emotionale Taubheit oder Überflutung
  • Nervensystem-Dysregulation (dein Körper weiß nicht mehr, was „entspannt“ bedeutet)
  • Verlust der Fähigkeit, mit normalerweise erträglichen Inputs umzugehen

Sensory Burnout ist die langfristige Konsequenz davon, in einer Welt zu leben, die nicht für dein Gehirn gebaut wurde.


Symbolbild für sensorische Überreizung, Statur in farblicher Verzerrung

ADHS und Sensorik: Die Dopamin-getriebene Achterbahnfahrt

Bei ADHS sind sensorische Sensibilitäten eng mit dem ewigen Hunger nach Stimulation und Dopamin verbunden. (Falls du Teil 2 dieser Reihe über Dopamin verpasst hast – da wird’s ausführlich.)

Stimming und Fidgeting: Die Kunst, nicht durchzudrehen

Für ADHS-Gehirne ist Stimming (selbststimulierende, sich wiederholende Bewegungen) und Fidgeting (herumzappeln) nicht optional, es ist überlebensnotwendig. (Daran erkennt man sich irgendwie oft auch, oder nicht? ;-))

Überschüssige Energie abbauen: Dein Körper ist wie ein Schnellkochtopf ohne Ventil. Beinwippen, Stiftklicken, Kritzeln sind die Ventile.

Konzentration aufrechterhalten: Paradoxerweise helfen diese kleinen Bewegungen, den Fokus zu halten. Dein ADHS-Gehirn braucht einen konstanten Dopamin-Fluss, und Fidgeting liefert genau das. Subtile Bewegungen steigern die Erregung auf ein optimales Level für Konzentration.

Das Problem ist, dass deine Umwelt das oft nicht versteht. „Kannst du nicht stillsitzen?“ Nein, Karin, kann ich nicht, selbst wenn ich wollte. Wieso kannst DU das??

Interozeption: Wenn dein Körper vergisst, dir zu sagen, dass du am Verrecken bist

Interozeption ist deine Fähigkeit, interne Körpersignale wahrzunehmen: Hunger, Durst, Harndrang, Müdigkeit. Bei ADHS ist dieser Sinn oft… nutzlos.

Du merkst erst, dass du hungrig bist, wenn du kurz vorm Verhungern bist. Durst? Erst, wenn dein Mund sich anfühlt wie die Sahara. Und pinkeln? Erst, wenn es eine medizinische Notlage ist.

Warum? Weil deine Aufmerksamkeit ständig von dem abgelenkt wird, was interessanter oder dringender erscheint. Dein Körper schreit: „EY, WIR BRAUCHEN WASSER!“ Aber dein Gehirn ist gerade damit beschäftigt, eine Wikipedia-Spirale über mittelalterliche Belagerungswaffen zu durchlaufen.

Das Ergebnis: Du ignorierst deine Grundbedürfnisse bis zur Krise. Super praktisch. Nicht.


Bild eines Gehirns im Doodlestil, wie es erschöpft und wie betäubt auf dem Boden sitzt durch zu viele Reize

Autismus und Sensorik: Wenn die Welt zu laut ist, um zu existieren

Bei Autismus sind sensorische Sensibilitäten nicht nur ein Feature. Sie sind ein zentraler Bestandteil der Erfahrung.

Stimming als Regulation: Der Rettungsanker im sensorischen Sturm

Beim Autismus dient Stimming primär dazu, mit sensorischer Überlastung oder emotionalem Überfluss umzugehen. Wiederholte Bewegungen wie Schaukeln, Handflattern, Summen etc. sind nicht „komisch“. Sie sind regulatorisch notwendig.

Dein Gehirn verarbeitet zu viel auf einmal, und Stimming hilft, das System auszugleichen. Es ist wie ein Reset-Knopf, nur in Form von rhythmischen Bewegungen.

Sensorisch sichere Umgebungen: Die Überlebensstrategie

Autistische Menschen brauchen oft klar definierte, sensorisch sichere Räume, um zu funktionieren. Das bedeutet:

  • Kontrolliertes Licht (dimmbares Licht, keine Neonröhren)
  • Vorhersehbare Geräuschkulisse (oder keine Geräusche)
  • Vertraute taktile Umgebungen (weiche Decken, keine kratzenden Stoffe)

Ohne diese Sicherheit? Die Welt wird zu einem Minenfeld, und jeder Schritt kann eine Explosion auslösen.

Angst und Vermeidung: Der ewige Begleiter

Sensorische Vermeidungsstrategien sind stark mit Angstzuständen verbunden. Wenn du weißt, dass ein Einkaufszentrum dich in einen Meltdown stürzt, vermeidest du es. Aber das bedeutet auch: Deine Welt wird kleiner. Dein Leben schrumpft, weil die sensorische Landschaft zu gefährlich ist.

Langanhaltender sensorischer Stress führt zu Autistischem Burnout, einem Zustand tiefer Erschöpfung, der Monate oder Jahre braucht, um sich zu erholen.


AuDHD: Wenn sich zwei sensorische Alpträume treffen und ein Baby bekommen

Und jetzt kommt die KombinationAuDHD (Autismus + ADHS). Wenn du dachtest, einer der beiden ist schon kompliziert, dann schnall dich an.

Die verstärkte Verwirrung

Bei AuDHD werden die Merkmale oft verstärkt. Du erlebst wahrscheinlich alle Traits:

  • Unaufmerksamkeit (ADHS) – verstärkt durch sensorische Überlastung
  • Hyperaktivität/Impulsivität (ADHS)
  • Autismus-Eigenschaften (sensorische Überlastung, soziale Unterschiede)
  • Kombinations-Eigenschaften (die sich widersprechen)

Das Ergebnis: Ein sensorisches Erlebnis, das sich anfühlt wie ein Ping-Pong-Spiel im Gehirn.

Der Widerspruch: Suche vs. Vermeidung gleichzeitig

Hier wird’s wild: Du kannst gleichzeitig hypersensibel auf Geräusche reagieren (Autismus) und nach taktilem Input suchen (ADHS). Dein Gehirn sagt: „Ich brauche MEHR Druck und Bewegung!“ während es gleichzeitig schreit: „ALLES IST ZU LAUT, MACHT ES AUS!“

Du dissoziierst in Stille (Autismus), aber Stille fühlt sich auch an wie Ertrinken, wenn du nicht durch Rhythmus, Druck oder visuelle Reize reguliert wirst (ADHS).

Du bist ein wandelnder Widerspruch. Das lässt sich schwer als “Superkraft” empfinden, nicht wahr?

Maskierung und späte Diagnose

Autistische Merkmale, einschließlich sensorischer Sensitivitäten, können durch Maskierung (das Verbergen autistischer Eigenschafte) oder prominente ADHS-Symptome oft erst später erkannt werden. Du hast vielleicht jahrelang gedacht: „Ich bin einfach nur chaotisch und sensibel.“ Bis du merkst: Oh, das ist nicht „normal“. Das ist Neurodivergenz, Baby.

Studien zeigen: 50–70 % der Erwachsenen mit Autismus haben auch ADHS. Die Kombination ist häufiger als viele denken.


Gezeichnetes Bild einer Frau, die von allen Händen Dinge gereicht bekommt und damit überfordert ist, Symbolisch für Überlastung

Was jetzt? Ein paar Überlebenstipps

Okay, genug Probleme aufgezählt. Du fragst dich wahrscheinlich: „Und was zur Hölle mache ich jetzt damit?“

Hier ein paar essenzielle Überlebensstrategievorschläge (keine Sorge, ich halte es kurz, ausführliche Anleitungen sprengen den Rahmen):

Die Basics zum Überleben:

Umwelt anpassen: Dein Zuhause sollte deine sensorische Festung sein. Dimmbares Licht, Blackout-Vorhänge, Blaulichtfilter auf allen Bildschirmen. Wenn die Welt draußen Chaos ist, brauchst du einen Rückzugsort.

Noise-Cancelling-Kopfhörer: Das ist deine Eintrittskarte zur Zivilisation. Weißes, rosa oder braunes Rauschen kann unvorhersehbare Geräusche filtern. (Falls du es magst, was auf/in den Ohren zu haben)

Gewichtete Decken: 10 % deines Körpergewichts. Sie liefern propriozeptiven Tiefendruck, der dein Nervensystem beruhigt (bin ich großer Fan von, das beziehen ist auch gleich ein Workout :D). Für tagsüber gibt’s auch gewichtete Westen oder Schoßpolster.

Fidget-Tools: Knetmasse, strukturierte Ringe, Kauspielzeug. Was auch immer funktioniert. Keine Scham. Dein Gehirn braucht das.

Sensorische Notfall-Kits: Pack dir einen kleinen Survival-Rucksack: Ohrstöpsel, Fidgets, Kaugummi, Duftroller, Sonnenbrille, ein vertrauter Hoodie. Deine Lebensversicherung für unterwegs.

Interozeption trainieren: Ja, du brauchst Handy-Alarme für „Trink Wasser“ und „Iss was“. Das ist nicht peinlich, das ist Selbstfürsorge.


Comicbild einer Frau mit Kopfhörern, die zwischen zwei redenden Menschen sitzt

Fazit: Deine “typische” Wahrnehmung ist valide

Ich dachte jahrelang, das wäre bei allen so. Dass jeder mit zusammengebissenen Zähnen durch den Tag geht, innerlich schreit, wenn jemand zu laut atmet, oder sich aus Situationen dissoziiert, die „zu viel“ sind.

Spoiler: Nein. Es fühlt sich an wie “kaputt sein”. Ich sehe es jedoch so: wenn ich mir den Maßstab ansehe, an dem ich das messe, geht es wieder. Meine Empfindungen sind valide.

Sensorische Sensibilitäten sind kein Defekt. Sie sind eine andere Art, die Welt zu erleben. Ja, sie können die Hölle sein. Ja, sie machen das Leben manchmal unerträglich. Aber sie sind auch Teil dessen, wer du bist.

Unsere aktuelle Welt wurde nicht für neurodivergente Gehirne gebaut. Aber das bedeutet nicht, dass du dich anpassen musst, bis du zerbrichst. Es bedeutet, dass du dir die Werkzeuge, die Umgebung und die Strategien erschaffen darfst, die du brauchst.

Du darfst Noise-Cancelling-Kopfhörer im Büro tragen. Du darfst eine gewichtete Decke in einem Meeting benutzen. Du darfst sagen: „Ich kann nicht in dieses Restaurant, das Licht macht mich wahnsinnig.“ Du darfst das Geschirr sofort abräumen, weil der Geruch dich wahnsinnig macht. Du darfst Grenzen setzen.

Und du darfst wissen: Du bist nicht zu viel. Die Welt ist einfach zu wenig vorbereitet.


Bis zum nächsten Mal, wenn wir uns wieder in die wunderbar chaotischen Tiefen der Neurodivergenz stürzen. Bleibt sensorisch sicher da draußen.