Selbsthilfegruppen sind lebensrettend, lebensverändernd – und mit vielen Vorurteilen behaftet. Ich bin nun viele Wochen um diesen Artikel rumgeschlichen, der mir schon so lange auf der Zunge und in den Fingern lag. An meiner Perfektion gescheitert, an meinen eigenen Ansprüchen, an der Angst, nicht vermitteln zu können, worum es mir geht, oder als verkappte Sektenführerin gelabelt zu werden.
Nevermind, ich habe fertig. In diesem Artikel geht es darum, wie Selbsthilfegruppen funktionieren, warum sie mir so viel bedeuten, und warum eigentlich jeder Mensch eine bräuchte (ernsthaft, wie geil wäre das…)
Er ist mal wieder lang (sorry :D), emotional, tiefgehend und persönlich. Ich wünsche dir, dass du dir die Zeit nehmen magst, eine neue Sicht zu bekommen. Das fände ich toll.
Mein Hottest Take, TL;DR: Wenn du dich nach Veränderung sehnst, braucht es neues Verhalten (ok und bissl mehr, aber auch das). Und das trainierst du am besten in sicheren Räumen, nicht in deinem Kopf. Dafür sind Selbsthilfegruppen da.
Selbsthilfegruppe: Warum die Realität ganz anders aussieht
Du glaubst, Selbsthilfegruppen seien der Ort, wo „die ganz Kaputten“ sitzen?
Gut. Dann war und bin ich da richtig.
Ich gehe seit fünfeinhalb Jahren zwei- bis dreimal die Woche in Selbsthilfegruppen. Erst wegen Alkohol, dann auch wegen ADHS und all den anderen Sachen. Und ich schwöre dir: Ohne diese Gruppen wäre ich tot. Und das ist keine Übertreibung oder Dramatisierung, und nicht metaphorisch gemeint. Ich wäre tot. Das ist eine nüchterne Tatsache (ha, nüchtern, der war gut).
Ich saß dort in verschiedenen “Aggregatszuständen”. Außerdem verzweifelt. Wütend. Und manchmal einfach nur, weil es Mittwoch war und ich nirgendwo anders hinwollte (was übrigens auch ein völlig valider Grund ist). Ich saß dort neben Menschen, die ihre Kinder verloren haben, neben welchen, die obdachlos waren, neben Akademikern, die ihre Karriere versoffen, haben neben jungen Müttern, die nicht mehr wussten, wer sie eigentlich sind (und die vielleicht zum ersten Mal merkten, dass sie nicht nur Mutter sind, sondern auch noch ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen).

Und ich werde nicht müde, zu sagen, dass mir das, die Gemeinschaft der “Kaputten”, mir mein Leben gerettet hat und es lebenswert gemacht hat. Therapie, Bücher, Kurse, gutgemeinte Ratschläge, whatever – alles nice to have. Aber diese Räume, diese verdammt ehrlichen, ungefilterten Räume, in denen ich einfach sein durfte, wie ich bin. Das will ich nicht mehr missen, und das erzähle ich auch gerne ungefragt (sorry :D)
Selbsthilfegruppe – das solltest du wissen
1. Selbsthilfegruppen bieten mehr als Austausch:
Sie schaffen geschützte Räume für radikale Ehrlichkeit, soziale Übung und emotionale Sicherheit – ganz ohne Leistungsdruck.
2. Veränderung beginnt nicht im Kopf, sondern im Raum:
Du brauchst kein „fertiges Konzept“, um zu kommen. Du musst nur auftauchen. Der Rest entwickelt sich durch Wiederholung, Rituale und Gemeinschaft.
3. Scham ist der größte Hinderungsgrund – und völliger Quatsch:
Niemand verurteilt dich. Menschen in Selbsthilfegruppen wissen, wie es ist, unten zu sein – und dass der erste Schritt verdammt viel Mut braucht. Und der Rest?… F**k it.
Mehr Infos & SHG-Datenbanken:
NAKOS – Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
Selbsthilfegruppen.de – Überblick zu Gruppen & Themen
Was eine Selbsthilfegruppe wirklich leistet (Spoiler: mehr als du denkst)
Lass mich raten: Wenn du an Selbsthilfegruppen denkst, siehst du einen Kreis von traurigen Menschen vor dir, die sich gegenseitig bemitleiden und vielleicht noch ein bisschen Kaffee trinken, der nach 1987 schmeckt. Vielleicht denkst du an verstaubte Gemeindehäuser, an Menschen, die es „nicht geschafft“ haben, an Scheitern, an die letzte Station vor dem totalen Absturz.
Und weißt du was? Ich verstehe das. Ich hatte ähnliche Bilder im Kopf, bevor ich das erste Mal durch diese Tür gegangen bin.
Aber es ist so fundamental falsch, dass es fast schon lustig ist.
Selbsthilfegruppen sind kein Inbegriff von Schwäche, sie sind ein Sammelbecken von verdammter Überlebenskompetenz. Sie sind emotionaler Muskelsport, und zwar der härteste, den ich kenne. Sie sind die einzigen Räume, in denen du soziale Fähigkeiten trainieren kannst, die dich nirgendwo sonst jemand lehrt, weil es dort nicht um Theorie geht (kein „du solltest mal“, kein „hast du schon probiert“), sondern um echtes, dreckiges, ungeschöntes Leben, so wie es halt ist.
Menschen, die in Selbsthilfegruppen gehen, sind nicht gescheitert. Sie haben verstanden, dass man bestimmte Kämpfe nicht alleine gewinnt. Und das ist fucking genial. Das ist Handlungskompetenz in Reinform.
Wie dich Scham davon abhält, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen
Ich verstehe die Scham. Ich hatte sie auch, aber ich kann mir diese Scham nicht mehr leisten, und rate mal – in den Meetings konnte ich sie Schritt für Schritt ablegen (surprise :D).
„Was, wenn mich jemand sieht?“
„Was denken die Leute dann über mich?“
„Ich bin doch nicht SO schlimm dran, oder?“
„Wenn ich da hingehe, gebe ich ja zu, dass ich ein Problem habe.“
Und weißt du, was ich dazu sage? Fick die Scham. Ernsthaft.
Ich habe mal mit einem Mann gesprochen, bei dem regelmäßig Feuerwehr und Polizei anrückten, weil er besoffen und bekifft einschlief, mit einer Pizza im Ofen (und wir reden hier nicht von einmal, sondern von mehrfach). Die ganze Nachbarschaft wusste Bescheid, die Feuerwehrleute haben wahrscheinlich Witze über ihn gemacht, und jeder im Umkreis von drei Straßen konnte sich denken, was da los war. Aber zur Selbsthilfegruppe gehen? Nein, da hatte er Angst, gesehen zu werden. Was denken die Leute über ihn? Da war die Scham plötzlich größer als bei der brennenden Pizza.
Wie Scham dich isoliert und Veränderung verhindert
Merkst du die völlige Absurdität dieser Situation? Die Unverhältnismäßigkeit?
Scham verhindert Veränderung, und zwar komplett. Scham hält dich isoliert, eingesperrt in deinem eigenen Kopf, in dem du dir ständig ausmalst, was andere über dich denken könnten (während die meisten Menschen ehrlich gesagt viel zu sehr mit ihrem eigenen Scheiß beschäftigt sind, um über dich nachzudenken). Scham ist der Grund, warum Menschen in ihrem Elend ersticken, statt sich Hilfe zu holen. Und Scham ist die größte Lügnerin, die ich kenne. Sie flüstert dir ein, dass du alleine damit fertig werden musst, dass du dich schämen solltest, dass es peinlich ist, dass du schwach bist, wenn du Hilfe annimmst.
Also frage ich dich: Wie soll sich irgendetwas ändern, wenn du immer das Gleiche tust? Wenn du die Dinge vermeidest, die dir helfen könnten, nur weil du Angst vor der Meinung anderer hast? Wenn du lieber alleine leidest, als dich einmal, ein einziges verdammtes Mal, verletzlich zu zeigen vor Menschen, die übrigens genau dasselbe durchmachen, und auf den Rest zu scheißen?
Die Antwort ist einfach: Es wird sich nicht ändern. Nie. Und du weißt das eigentlich auch.
Was ich in der Selbsthilfegruppe fand – und du verpassen könntest
Ich nutze oft dieses Bild, und ich weiß, dass es vielleicht etwas abgegriffen klingt, aber es trifft es einfach perfekt: Ich bin wie ein Einhorn, das sein ganzes Leben lang in einer Kuhherde stand. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht zu verstehen, warum ich nicht so funktioniere wie die anderen, warum ich anders ticke, warum mich Dinge aus der Bahn werfen, die andere locker wegstecken, warum ich nicht einfach „normal“ sein kann (was auch immer normal bedeuten soll).

Und dann saß ich in diesem Raum, das erste Mal in einer Selbsthilfegruppe, nervös, hochmaskiert, mit dem aktivierten Fluchtreflex. Und zum ersten Mal, zum allerersten Mal in meinem Leben, saßen da andere Einhörner. Einfach so. Als wäre das das Normalste der Welt.
Ohne Scheiß, es war wie ein Nach Hause kommen. Flasht mich bis heute.
Ich musste nichts erklären, niemand hat mich schief angeguckt, niemand hat mir gut gemeinte Ratschläge gegeben wie „Ja, aber hast du schon mal probiert, einfach weniger zu trinken?“ (als wäre ich nicht selbst auf die Idee gekommen) oder „Kannst du dich nicht einfach mehr konzentrieren?“ (ach was, wirklich, KONZENTRIEREN, warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen, Problem gelöst!).
Ich konnte einfach sein. Ohne Maske, ohne Erklärung und Rechtfertigung, ohne ständig zu überlegen, was ich jetzt sagen darf und was nicht. Da saßen Menschen, die hatten, was ich auch wollte, und die waren sich einig: das hat die Gemeinschaft geschafft. Und ich glaubte ihnen. Zum Glück.
Was ich dort gefunden habe:
- Radikale Ehrlichkeit. Die Art, die wehtut und gleichzeitig heilt, weil sie endlich echt ist. Mir selbst gegenüber, nicht in die Fresse geschlagen von anderen.
- Menschen, die verstehen, ohne dass ich erklären muss. Die einfach nicken und sagen „ja, kenn ich“.
- Einen Ort, an dem ich keine Maske tragen muss. Keine einzige, und das ist so verdammt befreiend und gleichzeitig beängstigend weil unbekannt.
- Zugehörigkeit, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Niemand fragt nach meinem Lebenslauf oder danach, ob ich heute produktiv war, sondern es herrscht ein Gefühl von “Schön, dass du da bist” und gut.
- Rituale, die mir helfen anzukommen. Was ich im Alltag oft nicht schaffe, weil mein Kopf zu schnell ist.
- Einen Raum, in dem niemand etwas von mir will – außer dass ich da bin, und selbst das ist freiwillig.
Selbsthilfegruppen fangen Dinge auf, die keine Institution dieser Welt auffängt. Nicht der Staat (der ist mit Formularen beschäftigt), nicht Therapeuten (die haben Wartelisten bis ins nächste Jahrzehnt), nicht deine Familie (die oft Teil des Problems ist, auch wenn sie es gut meint), nicht deine Freunde (die irgendwann müde werden von deinen immer gleichen Geschichten, was menschlich ist).
Weil diese Räume auf etwas basieren, das vereint: geteiltes Leiden, geteiltes Anderssein. Und das klingt vielleicht erst mal deprimierend, wenn man es so ausspricht, aber es ist das Gegenteil. Es ist der Moment, in dem du merkst: Ich bin nicht allein mit diesem Scheiß. Ich bin nicht falsch. Ich bin nicht kaputt. Ich bin nur anders, und hier sind noch mehr Anders-Menschen, und wir verstehen uns blind.
Welche Fähigkeiten du nur in Selbsthilfegruppen lernst
Ich war impulsiv, bin ich immer noch, weil ADHS verschwindet nicht einfach, egal wie viele Atemübungen ich mache. Ich war chaotisch, unfähig, Konflikte auszuhalten, bin bei jedem kleinsten Trigger sofort hochgegangen oder weggerannt. Ich konnte nicht bei mir bleiben, war ständig im Außen, bei anderen, in deren Problemen, überall, nur nicht bei mir selbst.
Was heute anders ist? Ich bin immer noch impulsiv, immer noch anstrengend (hmpf), aber ich habe durch diese Meetings, mittlerweile sind es wahrscheinlich 400 an der Zahl, vielleicht mehr, gelernt, Dinge auszuhalten, die mich früher zerrissen hätten. Ich habe Werkzeuge. Ich habe Strategien. Ich habe Menschen, die mich kennen und trotzdem noch da sind (was schon mal ein gutes Zeichen ist).

Zugabe und positiver Nebeneffekt:
- Perspektivwechsel ohne Theorie. Du hörst eine Geschichte von jemandem, dessen Leben nichts mit deinem zu tun hat, und verstehst plötzlich dich selbst besser (wie das funktioniert, keine Ahnung, aber es tut es)
- Selbstregulation in Echtzeit. Du lernst auszuhalten, auch wenn gerade jemand nervt oder etwas sagt, das dich triggert, und du lernst, dass das okay ist.
- Grenzen setzen, ohne zu verletzen. „Ich bleibe bei mir“ wird zur Lebensphilosophie, und das ist so krass lebensverändernd (im positiven Sinne).
- Konflikte aushalten ohne sofort wegzurennen. Weil du weißt, dass du nächste Woche wieder kommst und dass das hier ein sicherer Raum ist. Weil nachtragendes Denken hier kaum vorkommt.
- Ehrlichkeit, die nicht zerstört, sondern verbindet, weil alle im selben Boot sitzen.
Und das Wichtigste, das ich gelernt habe: Du lernst, Menschen so zu nehmen, wie sie sind, mit all ihren Macken, ihren nervigen Angewohnheiten, ihren Triggern, ihrem Gepäck.
Es gab Menschen in diesen Gruppen, die mich genervt haben, und zwar so richtig. Die mich angegriffen haben, weil sie selbst nicht differenzieren konnten zwischen mir und ihren eigenen Themen. Die mir auf den Sack gingen mit ihren ständig gleichen Geschichten. Manche sind halt auch einfach Arschlöcher. Aber ich habe gelernt zu fragen: Warum eigentlich? Was spiegeln die mir? Was sehe ich in ihnen, das ich vielleicht an mir selbst hasse oder nicht wahrhaben will?
Und das hat so einen krassen Impact. Nicht die Therapie mit ihren schlauen Konzepten, nicht die Bücher mit ihren Fünf-Schritte-Programmen. Diese dreckigen, ehrlichen, manchmal nervigen Begegnungen mit echten Menschen, die genauso kaputt und genauso am Kämpfen sind wie ich.
ADHS & Sucht: Warum Selbsthilfegruppen beiden helfen können
Ich bin kein Freund von Nabelstübchen, wo man sich nur gegenseitig bestätigt und sich einredet, dass die Welt das Problem ist und nicht man selbst (auch wenn die Welt manchmal schon auch ein ziemliches Problem ist, seien wir ehrlich). Aber ich sehe massive Parallelen zwischen Menschen mit Alkoholismus oder anderen Süchten und Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen Formen neurodivergenter Gehirne.
Nicht so sehr am Krankheitsbild, die sind natürlich unterschiedlich, das weiß ich auch. Sondern im Bedarf. Im fundamentalen, tiefen Bedürfnis, sich mit Menschen auszutauschen, die einen wirklich verstehen, ohne dass man sich rechtfertigen oder erklären muss.
Beide Gruppen vereint:
- Das grundlegende Anderssein und der Leidensdruck, der damit einhergeht, wenn man ständig versucht, in eine Welt zu passen, die nicht für einen gemacht ist
- Die Sucht bleibt, die Neurodivergenz bleibt. Das sind keine vorübergehenden Probleme, die man „einfach mal lösen“ kann, sondern Begleiter fürs Leben
- Der existenzielle Bedarf an Räumen, wo Masken abgelegt werden können. Schritt für Schritt, eine nach der anderen
- Die Notwendigkeit von Wiederholung und Ritual, um Struktur zu geben in einem Gehirn, das Struktur oft nicht selbst herstellen kann
- Die Erfahrung, dass niemand sonst es wirklich versteht. Nicht böse gemeint, aber es ist halt so
Es geht nicht darum, sein Leben lang jede Woche irgendwo hingehen zu müssen (auch wenn ich das tue, weil es mir guttut). Aber es ist verdammt gut zu wissen, wo so ein Anker ist. Wo Verständnis herrscht. Wo man einfach sein kann, ohne zu performen, ohne zu erklären, ohne sich klein zu machen.

Struktur in der Selbsthilfegruppe – das macht den Unterschied
Die Gruppen, in denen ich bin, haben Prinzipien, die ich abgöttisch liebe, weil sie den Raum überhaupt erst zu dem machen, was er ist:
Wir reden nur von uns selbst. Keine Ratschläge, außer vielleicht vorher oder nachher im persönlichen Gespräch (und auf Nachfrage! Weirdes Konzept, wa? :D), aber nicht im Meeting selbst. Kein „Du solltest…“, kein „An deiner Stelle würde ich…“, kein „Hast du schon mal probiert…“. Nur: „Bei mir ist es so.“ oder sogar gar kein Eingehen darauf. Das ist so unglaublich befreiend, weil ich nicht ständig Angst haben muss, dass mir jemand reinredet.
Bleib bei dir. Das ist die Devise, das ist die Regel, das ist das Mantra. Und genau das lernst du dort – bei dir zu bleiben, auch wenn um dich rum Chaos ist.
Es ist ein politik-freier Raum – so gut es geht jedenfalls. Weil es hier nicht um Ideologien geht, nicht um links oder rechts, nicht um richtig oder falsch, sondern um Menschen und ihre Geschichten.
Keine Verpflichtung. Ich muss mich nicht anmelden, nicht Bescheid sagen, wenn ich nicht komme. Ich kann kommen und gehen, wie es mir passt. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig (auch wenn viele am Anfang anfangen sich zu rechtfertigen, wenn sie mal nicht da waren, aber das muss man eben nicht).
Was diese Kultur in mir verändert hat
Und das vielleicht Wichtigste: Ich kann in jedem Aggregatzustand kommen. Trocken. Angetrunken. Total besoffen. Traurig, Wütend, Freudig, Euphorisch, Schwankend, Heulend, Lachend, Unsicher, Selbstbewusst; setze beliebig fort. (Es gibt natürlich Grenzen, aber grundsätzlich ist die Tür offen, und das ist entscheidend.)
Diese Sprachkultur, diese Art miteinander umzugehen, hat mein Leben fundamental verändert. Ich ziehe aus jedem Beitrag etwas raus, selbst wenn die Person über etwas spricht, das auf den ersten Blick nichts mit meinem Leben zu tun hat (Ein bisschen wie Reddit oder Threads, aber mit Puls, Authentizität und ohne Werbung). Manchmal ist es nur Dankbarkeit dafür, dass es mir gerade nicht so schlecht geht wie der Person, die da spricht. Manchmal ist es ein Perspektivwechsel, den ich nicht erwartet hatte. Manchmal ist es einfach nur die Erkenntnis: „Okay, so schlimm ist es bei mir dann doch nicht“ – oder „Fuck, so könnte es auch bei mir werden, wenn ich nicht aufpasse.“
Die drei Säulen jeder Selbsthilfegruppe: Erfahrung, Kraft & Hoffnung
Das ist es, was wir in diesen Räumen teilen, und zwar ohne großes Gedöns, ohne Konzept, einfach durch unser Da-Sein:
Erfahrung – aus Situationen, die ich vielleicht noch nicht kenne, auf die ich mich aber zumindest gedanklich ein bisschen vorbereiten kann (so eine Art mentale Vorbereitung darauf, was noch kommen könnte, auch wenn man natürlich nie wirklich vorbereitet ist).
Kraft – weil ich sehe, wie andere Menschen durch absolute Höllen gehen und trotzdem weitermachen, trotzdem wieder aufstehen, trotzdem nicht aufgeben. Und wenn die das können, dann kann ich das vielleicht auch.
Hoffnung – weil Menschen, die schon Jahre oder Jahrzehnte dabei sind, immer wieder sagen: Es lohnt sich. Und ich sehe in ihren Gesichtern, dass sie es ernst meinen, dass das nicht nur dahergesagt ist.
Und manchmal, und das wird oft unterschätzt, lachst du auch einfach so hart, wie du seit Jahren nicht mehr gelacht hast. Weil Humor und Trauma Hand in Hand gehen, weil manche Geschichten so absurd sind, dass man nur noch lachen kann. Weil die Erkenntnisse durchaus witzig sind, und manchmal bringt jemand Brownies mit, die einfach nur als Türstopper taugen (Liebe geht raus an dich <3) Genesung und Heilung muss nicht immer ernst und schwer sein, sondern darf auch leicht sein, weil auch das Leichte heilsam ist.

Selbsthilfegruppe & Commitment: So befreit dich echte Entscheidung
Viele kriegen regelrechte Panikattacken bei dem Wort „Commitment“, bei dem Gedanken an Verbindlichkeit. Sie denken: „Oh Gott, wenn ich da einmal hingehe, dann muss ich jede Woche hin, dann bin ich verpflichtet, dann kann ich nicht mehr raus, dann habe ich wieder einen Termin mehr im Kalender, den ich einhalten muss.“
Und ich verstehe das, ehrlich. Viele Menschen (egal ob Säufer, Neurodivergent oder nicht) haben Angst vor Eigenverantwortung, haben Angst, dass sie die nicht tragen können, dass sie versagen werden, dass sie enttäuschen werden.
Aber weißt du was? Das ist Quatsch. Kompletter Quatsch.
Du gehst wegen DIR in eine Selbsthilfegruppe. Wegen niemandem sonst. (Es sei denn, die Polizei oder das Gericht schickt dich, dann kannst du es wahrscheinlich auch gleich lassen, weil das eh nicht funktioniert, wenn du nicht wirklich willst.)
Diese Angst vor Eigenverantwortung, dass du sie nicht tragen kannst, dass du zu schwach bist, dass du es nicht schaffen wirst – du darfst (und wirst!) das lernen. Schritt für Schritt. Du darfst Fehler machen. Du darfst auch mal nicht kommen, ohne dass jemand böse ist. Du darfst dich ausprobieren.
Es ist freiwillig. Immer. Und genau deshalb funktioniert es: weil du kommst, weil DU es willst, nicht weil jemand anders es von dir erwartet.
Du musst nicht – du darfst
Irgendwann sitzt du wie ich in diesem Meeting, und du denkst: „Mann, ich hab heute wirklich überhaupt gar keinen Bock, ich will nach Hause, ich will Netflix gucken, ich will mich verkriechen.“ Und du gehst trotzdem. Weil du mittlerweile weißt, dass es dir danach besser geht. Vielleicht nicht auf dem Weg dahin, aber danach, wenn du wieder raus gehst und merkst: „Okay, war gut, dass ich da war.“ (Seriously, manchmal sitze ich knurrig im Meeting und frage mich, wie ich da überhaupt hingekommen bin, nur um dann froh zu sein, dass da was wirkt)
Wenn es dir schlecht geht, lauf ins Meeting. Wenn es dir richtig gut geht – renn.
Das ist die Regel, die mir ein alter Hase in meiner ersten Gruppe gesagt hat. Und sie rettet Leben, weil sie dich davon abhält, nur zu gehen, wenn du schon halb am Boden liegst, sondern auch dann, wenn noch alles in Ordnung scheint. Weil Prävention eben doch besser ist als Reparatur. (ich sehe schon, wie spätestens hier einige abspringen, aber isso)
Mein Leben mit Selbsthilfegruppen – was sich wirklich verändert hat
Meine Mittwochs-Meetings haben jahrelang meine Woche gerettet, und das ist keine Übertreibung. Sie waren der Höhepunkt meiner Woche, der Punkt, an dem ich wusste: Okay, hier kann ich ankommen, hier muss ich nicht performen, hier ist es okay, wenn ich heute nicht okay bin. Durch meinen Umzug hat sich das etwas verändert, aber die Struktur ist geblieben, die Wichtigkeit ist geblieben.
Ich habe dort Menschen getroffen, die ich auf der Straße niemals kennengelernt hätte – Menschen aus völlig anderen Welten, anderen sozialen Schichten, anderen Lebensentwürfen. Menschen, die mir am Anfang gleich vorkamen (im Sinne von: die verstehen mich), sind heute meine besten Freunde, die Menschen, die ich mitten in der Nacht anrufen kann. Sogar mein Kind ist manchmal Teil dieser Gruppe, weil diese Menschen für mich Familie geworden sind. Vertrauen habe ich erst hier in der Tiefe gelernt.
Ich habe gelernt, meine Gedanken zu sortieren, und das ist vielleicht eine sehr weibliche Eigenschaft (oder zumindest wird es oft so beschrieben): Frauen sortieren sich oft, indem sie kommunizieren, im Sprechen kommt die Erkenntnis. Und ich kann das für mich komplett unterschreiben – ich weiß oft gar nicht, was ich denke, bis ich es ausgesprochen habe.
Ich weiß noch, wie ich oft mit einem ganz bestimmten Thema ins Meeting gefahren bin, völlig überzeugt: „DAS ist es, DAS muss ich heute loswerden, darum geht es!“ Und dann kam es ganz anders, weil ich beim Reden gemerkt habe, worum es eigentlich geht. Und das war meistens etwas ganz anderes, etwas Tieferliegendes, das sich unter dem offensichtlichen Thema versteckt hatte.
Und dann kann Ruhe einkehren. Diese Ruhe, die ich im Alltag so selten schaffe, weil mein Kopf zu schnell ist, zu laut, zu voll.
Ist eine Selbsthilfegruppe das Richtige für dich?
Ich bin ehrlich mit dir: Selbsthilfe ist nicht für jeden was, und das ist auch okay. Nicht alles muss für alle passen, und das bedeutet nicht, dass mit dir was nicht stimmt, wenn es nichts für dich ist (auch wenn ich denke, dass die meisten Menschen, die sagen „Das ist nichts für mich“, es noch nie wirklich versucht haben).

Es funktioniert, wenn du bereit bist (zu lernen):
- Ehrlich zu sein – zumindest Schritt für Schritt, du musst nicht am ersten Tag dein ganzes Leben ausbreiten
- Zuzuhören – auch wenn es nervt, auch wenn du denkst „Was hat das denn mit mir zu tun?“ (Neugierde – einer meiner wichtigsten Werte. Ob es da einen Zusammenhang gibt? Na sichi! :D)
- Dich selbst auszuhalten – was manchmal das Schwerste überhaupt ist
- Schritt für Schritt zu lernen und dabei auch mal zu scheitern
Es funktioniert wahrscheinlich NICHT, wenn du:
- Nur Bestätigung suchst und keine echte Veränderung willst
- Erwartest, dass andere dich retten, dass die Gruppe „dich trägt“ ohne dass du selbst was tust
- Es tust, um etwas zu retten, oder weil andere es von dir verlangen
- Einmal hingehst und dann aufgrund dieses einen Mal urteilst, ob es was für dich ist
Und hör mir gut zu, weil das wirklich wichtig ist: Einmal hingehen zählt nicht. Einmal ist nur Stress. Einmal ist „Oh Gott, neue Menschen, neue Situation, ich weiß nicht, was ich sagen soll, alle gucken mich an (tun sie wahrscheinlich gar nicht), ich fühle mich unwohl“ – und dann gehst du raus und denkst „Nee, war nix.“
Der erste Schritt ist der schwerste, aber er ist auch nur der erste. Du solltest wiederkommen. Mehrmals. Weil sich erst nach mehrmaligem Kommen dieses Gefühl von „Okay, ich gehöre hier irgendwie auch dazu“ einstellt.
Es mag auch Meetings geben, wo du sagst: „Nee, das ist wirklich nichts für mich, die Energie passt nicht, die Themen passen nicht.“ Und das ist okay – dann such dir eine andere Gruppe. Ich könnte auch nicht in Selbsthilfegruppen gehen, wo es den ganzen Tag darum geht, wie gut die Tomaten dieses Jahr wachsen oder wo nur oberflächlich geplaudert wird. Dafür ist mein leben und meine Zeit zu wertvoll.
Was du verpasst, wenn du nie gehst (und warum das eigentlich schade ist)
Du verpasst Zugehörigkeit. Echte Zugehörigkeit, nicht dieses oberflächliche „Wir kennen uns vom Sehen“.
Du verpasst Entlastung, diese tiefe Erleichterung, wenn jemand anders ausspricht, was du dachtest, nur du allein würdest so fühlen.
Du verpasst soziale Übung in einem geschützten Raum, wo Fehler okay sind.
Du verpasst echte Veränderung, nicht diese „Ich lese ein Buch und dann wird alles anders“-Veränderung, sondern die langsame, tiefe, nachhaltige Art von Veränderung.
Du verpasst einen Ort, wo niemand etwas von dir will – außer dass du da bist, und selbst das ist freiwillig.
Ich bin auf Dienstreisen in fremde Meetings gefahren, irgendwo im tiefsten Bayern, wo ich ehrlich gesagt nicht mal richtig verstanden habe, was die Leute gesagt haben (dieser Dialekt, meine Güte). Aber ich war trotzdem dabei. Ich bin zum ersten Mal reingekommen, habe kurz gesagt, wer ich bin und warum ich da bin – und sie haben mich aufgenommen. Sofort. Ohne Fragen, ohne Bewertung, mit Wärme, als wäre ich nie nicht da gewesen. Magical, echt.
Man hat mich dann immer erwartet, hat mir Sachen mitgebracht, hat sich gefreut, wenn ich da war. Und ich bedaure bis heute, dass ich mich von diesen Menschen nicht verabschieden konnte, als ich nicht mehr kam (weil Job gekündigt). Denn es entsteht Verbindung, Gemeinschaft, und ich trage diese Menschen weiter im Herzen.

Warum ich selbst versuche, solche Räume zu bauen (und warum das so verdammt schwer ist)
Ich versuche gerade, etwas Ähnliches mit meiner Lost Unicorn Society aufzubauen, und ich muss ehrlich sagen: Es ist verdammt schwer. Nicht, weil die Menschen fehlen oder weil das Interesse nicht da ist, sondern weil diese Art von Verbindung, diese Tiefe, nicht einfach so entsteht. Sie braucht Zeit. Sie braucht Regelmäßigkeit. Sie braucht Menschen, die bereit sind, verletzlich zu sein. Und sie braucht mich, die ich bereit bin, loszulassen und zu akzeptieren, dass ich nicht alles kontrollieren kann (und ich werde immer besser darin).
Das liegt aber an mir und meinen eigenen Themen, nicht an irgendwelchen anderen Menschen oder an der Idee an sich. Verantwortung zu übernehmen ist nicht das Ding, ich neige eher dazu, zu viel zu übernehmen und habe gelernt, da Grenzen zu setzen. Aber Geduld, ey. Die 3 G – Geduld, Geduld, Geduld. Das darf ich annehmen und lernen. Und ich liebe meine selbst gebaute Annahme: Ich wusste lange einfach nicht, dass ich es bin (geduldig, oder was auch immer).
Keine KI kann diese Verbindung ersetzen, so gut die Technologie auch wird. Keine Theorie, keine Webinare, keine Online-Kurse, so hilfreich sie auch sein mögen, können das ersetzen, was passiert, wenn Menschen wirklich zusammenkommen, sich in die Augen schauen und ihre Geschichten teilen.
Nur echte Menschen. Echte Geschichten. Echter Scheiß und echtes Wachstum, ohne Filter, ohne Bearbeitung.
Deshalb lade ich dich ein: Probier es aus. Investier diese Zeit in dich. Am Ende investierst du nichts weiter als Zeit, und klar, kann man jetzt eine Prioritätendiskussion starten, kann sagen „Ich hab keine Zeit, ich hab so viel zu tun“, aber am Ende ist es so:
Du weißt nicht, ob es funktioniert, wenn du es nicht gemacht hast. So einfach ist das. So brutal ehrlich ist das auch.
Meine Einladung an dich
Ich frage dich also: Ist deine Sicht auf Selbsthilfe vielleicht falsch? Oder einfach nur unvollständig, weil du nur die Bilder im Kopf hast, die dir Medien und Gesellschaft gegeben haben?
Du weißt es nicht, solange du nicht gehst. Du kannst noch so viel darüber lesen, noch so viele Artikel konsumieren (einschließlich diesem hier), du wirst es erst verstehen, wenn du selbst durch diese Tür gehst und dich hinsetzt und zuhörst und irgendwann anfängst zu reden.
Ohne Selbsthilfegruppen wäre ich tot. Das ist keine Dramatisierung, das ist Fakt. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin – und ja, ich bin anstrengend, ich bin kompliziert, ich bin too much für viele Menschen. Aber ich habe auch ein verdammt cooles Leben. Ich habe echte Freundschaften. Ich habe Menschen, die mich kennen und trotzdem bleiben. Und ich bin ein verdammt toller Mensch geworden, auch wenn ich das früher nie über mich gesagt hätte.
Nicht trotz der Krankheiten, nicht trotz der Sucht, nicht trotz des ADHS – sondern durch sie. Weil sie mich gezwungen haben, hinzuschauen, Hilfe zu suchen, verletzlich zu sein, zu wachsen.
Vielleicht ist da eine Herde, die auf dich wartet
Und vielleicht merkst du irgendwann wie ich: Du wolltest eigentlich nicht hingehen. Du hattest Angst, du hattest Scham, du hattest tausend Ausreden. Aber du bist so verdammt froh, dass du es trotzdem getan hast.
Vielleicht wartet deine Herde nicht im Außen, nicht in den normalen sozialen Kreisen, nicht bei der Familie, nicht bei den alten Freunden. Vielleicht wartet sie in einem Kreis, den du noch nie betreten hast, in einem Raum, den du noch nie gesehen hast, bei Menschen, die du noch nicht kennst, aber die dich verstehen werden, sobald du anfängst zu reden.
Also: Trau dich. Geh hin. Bleib. Komm wieder. Und schau, was passiert.
Du hast nichts zu verlieren, außer deiner Einsamkeit, deiner Isolation, deinem Gefühl, allein zu sein mit deinem Scheiß. Und weißt du was? Das sind doch ziemlich gute Dinge zum Verlieren.
Und wenn es nach ein paar Malen immer noch nichts für dich ist? Dann ist es nicht für dich, und das ist okay. Aber dann weißt du es wenigstens. Dann hast du es probiert. Dann kannst du nicht mehr in zehn Jahren dasitzen und dich fragen: „Was wäre gewesen, wenn…?“
Du suchst einen geschützten Raum zum Austausch?
In meiner Lost Unicorn Society schaffen wir genau solche Räume für Menschen mit ADHS und anderen neurodivergenten Gehirnen.



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