Wenn wir über ADHS sprechen, ist Dopamin der Star der Show, der Rockstar unter den Neurotransmittern, über den alle reden. Aber während Dopamin die Schlagzeilen macht, werkelt im Hintergrund ein anderer Kerl vor sich hin, der mindestens genauso wichtig ist: Noradrenalin. Denk an Dopamin als den charismatischen Frontmann und Noradrenalin als den Techniker, der dafür sorgt, dass die Lichter angehen und die Verstärker funktionieren. Wenn der Techniker nicht auftaucht oder betrunken ist, wird die Show trotzdem zur Katastrophe.

Der Chemie-Stammbaum: Eine Familie voller Drama

Noradrenalin (auch Norepinephrin genannt, weil ein Name offenbar nicht verwirrend genug ist) gehört zusammen mit Dopamin und Adrenalin zur illustren Familie der Katecholamine. Diese wiederum sind Teil der noch größeren Sippe der sogenannten biogenen Amine (musst du dir nicht merken :D). Stell dir das wie eine dysfunktionale Großfamilie vor: Alle stammen von der Aminosäure Tyrosin ab, aber jeder hat seinen eigenen Dreh entwickelt.

Noradrenalin ist quasi der Nachfahre von Dopamin, buchstäblich. In der Biosynthese-Kette wird aus Dopamin erst Noradrenalin, und aus Noradrenalin dann Adrenalin. Es ist wie eine chemische Geschwisterreihe, bei der jeder einen Tick intensiver ist als der vorherige (vielleicht ist der Stammbaum ja ein Kreis).


Was macht Noradrenalin eigentlich den ganzen Tag?

Während Dopamin sich um Motivation, Belohnung und die Frage kümmert, ob es sich lohnt, vom Sofa aufzustehen, spielt Noradrenalin eine zentrale Rolle bei Wachsamkeit und Aufmerksamkeit. Es wird hauptsächlich im sogenannten Locus coeruleus produziert. Das ist ein winziger Bereich im Hirnstamm, der klingt wie eine römische Militärfestung und sich auch so benimmt. Cortisol lauert schon hinter der Ecke, wenn sich Noradrenalin bereit macht.

Noradrenalin hemmt außerdem den Abbau von Dopamin. Das erklärt, warum sich viele ADHSler:innen besonders bei hohem Streß erst richtig konzentrieren können. Ist dir das auch schon bei dir oder anderen Betroffenen aufgefallen? Für mich kann ich sagen: „Jap.“

Noradrenalin ist beteiligt an:

  • Wachsamkeit und Arousal (das allgemeine Aktivierungsniveau des Gehirns)
  • Aufmerksamkeitssteuerung (welcher der 47 Gedanken in deinem Kopf gerade Priorität bekommt)
  • Reizverarbeitung und -filterung (was wichtig ist und was ignoriert werden kann)
  • Lernen und Gedächtnis !allerdings ist Noradrenalin hier nur einer von vielen Faktoren in einem komplexen Netzwerk

Wichtig an der ganzen Sache ist: Noradrenalin arbeitet nicht allein. Funktionen wie Impulskontrolle, Gedächtnis oder emotionale Regulation sind multifaktoriell. Das heißt, viele Neurotransmitter und Hirnregionen spielen zusammen. Noradrenalin ist ein wichtiger Mitspieler, aber nicht der einzige Dirigent im Orchester.


chemische Formel von Noradrenalin

Das tonische vs. phasische Drama: Ein Zweiteiler

Hier wird’s richtig interessant, und zwar auf die Weise, wie wenn man plötzlich versteht, warum der Film die ganze Zeit keinen Sinn ergeben hat.

Tonisches Noradrenalin ist die Grundaktivität, also sozusagen das Hintergrundrauschen deines Gehirns. Phasisches Noradrenalin ist die kurzfristige, intensive Reaktion auf spezifische Reize, quasi der Moment, in dem dein Gehirn sagen sollte: „Hey, DAS hier ist jetzt wichtig, fokussier dich!“

Was die Forschung zeigt

Studien zum Locus coeruleus-Noradrenalin (LC-NA) System deuten darauf hin, dass bei manchen Menschen mit ADHS (und auch bei Autismus-Spektrum-Störungen) folgendes Muster auftreten kann:

  • Die tonische Aktivität könnte erhöht sein (ständige Grundspannung)
  • Die phasische Reaktion könnte reduziert oder verzögert sein (schwache Reaktion auf wichtige Reize)

Aber Achtung: Diese Befunde sind nicht bei allen Betroffenen gleich und hängen stark vom Kontext ab, also davon, ob jemand gerade in Ruhe ist, eine Aufgabe macht, oder wie die Messung erfolgt (z.B. über Pupillenweite, Gehirnscans etc.). Die Forschung ist hier noch am Arbeiten, und es wäre falsch zu sagen, dass alle mit ADHS exakt dieses Muster zeigen.

Die Metapher (mit Realitäts-Check)

Stell dir vor, du versuchst ein Gespräch zu führen, während neben dir permanent ein Presslufthammer läuft (tonisch zu hoch), aber wenn jemand dir etwas Wichtiges zuruft, kannst du es trotzdem nicht richtig hören (phasisch zu schwach).

In der Realität ist es natürlich komplexer: Das Gehirn ist kein einfacher Ein-Aus-Schalter, und die Balance zwischen tonischer und phasischer Aktivität wird von vielen Faktoren beeinflusst, zum Beispiel der Tageszeit, dem Stresspegel, Schlaf, anderen Neurotransmittern und individuellen Unterschieden.

Bei Betroffenen sieht das dann oft so aus: sie schlagen sich mit einem Gehirn rum, das sich permanent alarmbereit anfühlt, aber trotzdem Schwierigkeiten hat, auf die richtigen Dinge zu reagieren. Es ist, als hättest du eine Alarmanlage, die ständig piept, aber genau dann schweigt, wenn tatsächlich jemand einbricht. (Ja, auch das ist eine Vereinfachung, aber eine, die das Gefühl ganz gut trifft.)


Wenn Autismus mit ins Spiel kommt: Die Überschneidungen

Bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) gibt es ebenfalls Hinweise auf eine Dysregulation des LC-NA-Systems. Die tonische Aktivität scheint auch hier bei manchen Menschen erhöht zu sein, was die sensorische Überempfindlichkeit erklären könnte. Jedes Geräusch, jede Berührung, jedes Licht wird zur Herausforderung.

Wenn ADHS und Autismus zusammenkommen (auch „AuDHS“ genannt) können sich diese Herausforderungen überschneiden und verstärken, aber auch etwas ausgleichen.

Wichtig: ADHS und Autismus sind nicht dasselbe, und die neurobiologischen Mechanismen unterscheiden sich in vielen Punkten. Es gibt Überschneidungen, aber auch klare Unterschiede. Beide Diagnosen pauschal über einen Kamm zu scheren, würde der Komplexität nicht gerecht.


graphische Darstellung eines besorgten Gehirns

Dopamin und Noradrenalin: Das Dream-Team (oder Chaos-Duo)

Während Dopamin sich fragt: „Lohnt sich das?“ und „Gibt’s dafür eine Belohnung?“, trägt Noradrenalin dazu bei, dass du überhaupt aufmerksam genug bist, um bei der Sache zu bleiben. Bei ADHS spielen oft beide Systeme nicht optimal zusammen.

Dopamin-Dysregulation kann führen zu:

  • Motivationsproblemen bei langweiligen Aufgaben
  • Ständiger Suche nach Neuheit und Kicks (Dopamine Seeking)
  • Hyperfokus bei interessanten Dingen (weil endlich mal Dopamin fließt)
  • Impulsivität (schnelle Belohnungen yay, langfristige Planung ney)

Noradrenalin-Dysregulation kann beitragen zu:

  • Aufmerksamkeitsproblemen trotz subjektiver „Wachheit“
  • Schwierigkeiten beim Filtern von Reizen
  • Emotionaler Dysregulation
  • Dem Gefühl, als würde dein Gehirn auf einem Ergometer sitzen, in Bewegung aber kein sichtbares Fortkommen

Zusammen können sie das klassische ADHS-Bild ergeben: Du bist gleichzeitig erschöpft UND aufgedreht, kannst dich nicht konzentrieren UND bist von allem überreizt, willst tausend Dinge anfangen UND bringst nichts zu Ende.

Die Sucht-Verbindung: Wenn das Gehirn zum Selbstbedienungsladen wird

Noradrenalin ist (zusammen mit Dopamin, GABA, Glutamat und Serotonin) an Suchtmechanismen beteiligt. Menschen mit ADHS haben ein erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch und Verhaltenssüchte. Ich gehöre definitiv dazu. Lucky me. Nicht.

Wenn das Belohnungssystem dysreguliert ist und das Aufmerksamkeitssystem ständig Fehlalarm schlägt, ist die Versuchung groß, nach externen, regulierenden „Lösungen“ zu suchen, sei es Nikotin, Alkohol, exzessives Gaming oder endloses Social-Media-Scrollen. Das Gehirn versucht so, ein chemisches Gleichgewicht herzustellen, das bei neurotypischen Menschen von Haus aus stabiler ist. Soll ich darauf mal mehr im Detail eingehen? Sag mir gerne in den Kommentaren Bescheid dazu 🙂


Was kann man tun? (Es gibt Hoffnung!)

Medikamentöse Ansätze

Atomoxetin zum Beispiel ist ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der gezielt auf das noradrenerge System wirkt. Methylphenidat (z.B. Ritalin) beeinflusst sowohl Dopamin als auch Noradrenalin. Beide Medikamentengruppen können bei der Regulation dieser Systeme unterstützen. Allerdings wirken sie nicht bei allen gleich, und die Entscheidung kann nur sollte immer mit Fachärzt:innen getroffen werden. Deshalb belasse ich es an dieser Stelle hierbei.

Nicht-medikamentöse Ansätze

Das ist spannend, aber auch etwas weniger eindeutig. Es gibt vielversprechende Hinweise aus der Forschung, aber die Studienlage ist noch nicht so robust, dass man sie als „bewiesen“ bezeichnen könnte.

Erste Hinweise deuten darauf hin, dass folgendes helfen könnte:

  • Bewegung & Sport: Könnte die phasische Noradrenalin-Ausschüttung fördern und damit die Fähigkeit verbessern, auf wichtige Reize zu reagieren. Besonders Ausdauersportarten scheinen positive Effekte zu haben.
  • Achtsamkeit & Meditation: Könnte dazu beitragen, die tonische Überaktivität zu reduzieren und damit die ständige Reizüberflutung zu dämpfen. Auch hier gibt es positive Studien, aber noch keine abschließende Klarheit.
  • Strukturierte Routinen: Regelmäßigkeit kann Stress reduzieren und damit das gesamte Neurotransmitter-System stabilisieren.
  • Ernährung: Omega-3-Fettsäuren, Magnesium, Zink und B-Vitamine werden diskutiert als unterstützend für die Neurotransmitterproduktion. Aber auch hier gilt: keine Wundermittel, sondern Bausteine im Gesamtbild.
  • Neurofeedback: Ein Training, bei dem das Gehirn lernt, seine eigenen Aktivitätsmuster zu regulieren. Erste Studien sind vielversprechend, aber auch hier ist mehr Forschung nötig.

💡 Konkrete Mini-Impulse für den Alltag

Statt großer Veränderungen gilt hier wie fast überall im Leben: geh lieber kleine, umsetzbare Schritte.

  • Morgens: 5 Minuten Bewegung (Hampelmänner, Tanzen, Spaziergang) bevor du E-Mails öffnest oder dein Kind weckst → könnte helfen, den Fokus zu steigern
  • Bei Reizüberflutung: 3 tiefe Atemzüge, bewusst langsam → könnte die tonische Überaktivität kurzzeitig senken
  • Abends: Feste Routine (gleiche Zeit, gleiche Abfolge) → gibt dem Gehirn Sicherheit und reduziert Stress

Ich weiß, als ADHSler:in hört sich das manchmal absurd, ambivalent und albern an. Im Grunde sind die Impulse nur dafür da, dir eine Idee zu geben. Wenn das alles nichts für dich ist – such dir was anderes oder mach deinen eigenen wilden Mix raus. Experimentiere und forsche so lange, bis du weißt, was dir gut tut, und was du auch ohne Bock durchziehen kannst.

Wenn du dir dazu Austausch wünschst, bist du in der Lost Unicorn Society herzlich willkommen 🙂

Das Fazit: Der Techniker verdient mehr Anerkennung

Noradrenalin ist nicht der glamouröse Star, aber ohne ihn läuft vieles nicht rund. Es ist der Unterschied zwischen „Ich weiß, dass ich mich konzentrieren sollte“ und „Ich kann mich tatsächlich konzentrieren“. Es ist ein Faktor (nicht der einzige!) dafür, warum manchmal alles zu viel ist, obwohl objektiv gar nicht so viel los ist.

Die Forschung zum LC-NA-System bei ADHS und Autismus ist noch im Gange. Vieles ist vielversprechend, aber noch nicht abschließend geklärt. Was wir wissen: Das Noradrenalin-System spielt eine wichtige Rolle, und es lohnt sich, es im Blick zu behalten.

Wenn du ADHS, Autismus oder beides hast, ist es hilfreich zu verstehen, dass dein Gehirn nicht „kaputt“ ist (auch wenn es sich oft so anfühlt…). Es funktioniert nur anders. Und je besser du verstehst, wie es funktioniert, desto besser kannst du Strategien entwickeln, die zu dir passen.


Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Diagnose oder Behandlung. Noradrenalin ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor bei ADHS und Autismus. Wenn du Fragen zu deiner eigenen Situation hast, sprich bitte mit Fachärzt:innen oder Therapeut:innen.