Neulich bin ich über einen dieser Posts gestolpert, die sich heimlich ins Gehirn schleichen und da tagelang bleiben.

Ein Typ – spätdiagnostiziert mit ADHS (ähnlich wie ich, einen Beitrag dazu findest du hier) – hat sich ausführlich darüber ausgekotzt, dass bei ihm einfach nichts funktioniert. Kein Whiteboard. Keine To-Do-Liste. Keine App. Kein Post-it. Alles Mist. Er kriegt einfach nichts gebacken.

Ich las das. Und dachte: Moment mal. Ist das wirklich so? Oder läuft da was ganz anderes schief? Lass uns da mal eintauchen und auf ein paar andere Menschen illern.

Das Problem mit dem „Ich krieg nichts hin“-Narrativ

Versteh mich nicht falsch. Ich kenne den Frust, wenn scheinbar nichts klappt, wenn man sich fühlt wie der “Englishman in New York”. Ich war selbst schon oft an dem Punkt, an dem ich dachte: Ich bin einfach zu verkorkst für diese Welt.

Aber je länger ich über diesen Post nachgedacht habe, desto klarer wurde mir: Da stecken zwei ziemlich fiese Denkfehler drin.

Erstens: Vielleicht hat er einfach sein System noch nicht gefunden. Zweitens, und das wiegt fast schwerer: Vielleicht hat er noch nicht verstanden, dass ADHS-Systeme nicht wie IKEA-Regale funktionieren. Die stehen nicht für immer stabil an Ort und Stelle. Die wollen leben. Atmen. Sich verändern dürfen.

Was letzte Woche funktioniert hat, kann heute schon langweilig sein. Weil das Dopamin keine Lust mehr hat. Weil dein Hirn was anderes braucht. Und weißt du was? Das ist normal. Kein Versagen. Kein Grund zur Scham. Nervig, aber: ISSO.

Mein Whiteboard und ich – eine temporäre Lovestory

Seit ein paar Wochen läuft es bei mir erstaunlich rund, dank meines Whiteboards (Danke an Mama für dieses Weihnachtsgeschenk <3). 

Sonntagabend hab ich ein Date mit mir. Ich schreibe kleine Zettel (simple Excelvorlage). Darauf gibt es tägliche Wartungsaufgaben, damit ich “rund” laufe. Und die wichtigsten Dinge, die über die Woche anstehen. Termine, was ich schaffen will. Die werden an das Whiteboard gepappt und die täglichen Dinge abgenommen und in ein Glas getan, ebenso die anderen, wenn sie erledigt sind. So gut. Läuft richtig smooth. Für jetzt!

Wird das in drei Monaten noch funktionieren? Keine Ahnung. Werde ich dann in Selbstzweifel versinken? Na, wann eigentlich nicht?

Ich habe für mich verstanden: Es geht nicht darum, das eine perfekte System zu finden, das dich ewig trägt. Es geht darum, zu erkennen: Ich darf wechseln. Ich muss sogar wechseln. Mein Setup ist ein Chamäleon, kein Betonklotz.

Wand mit Whiteboard, Postern, Zetteln, ADHS Strategie

Gewohnheiten sind nicht das Problem, sondern wie wir sie bauen

Das Ding ist doch: Es geht nicht darum, OB Gewohnheiten aka “Habits” generell funktionieren. Natürlich tun sie das.

Aber unser Gehirn tickt anders. Wir müssen bewusster bauen. Mehr Wiederholung. Mehr Geduld. Mehr Flexibilität. Mehr “zurück auf Start.” Mehr „Dranbleiben trotz Dopaminloch“.

Und ja, das ist anstrengender als bei neurotypischen Menschen. Aber: Na und? Kann ich es ändern? Nö.

Wenn etwas halbwegs funktioniert und dich nicht direkt ins emotionale Koma schickt: bleib dran. Nicht für immer. Aber lang genug, um Wirkung zu spüren.

Die ADHS-Menschen, die „funktionieren“, und was wir von ihnen nicht sehen

Kennst du das? Du siehst jemanden auf der Bühne, im Fernsehen oder auf Social Media: ADHS-Mensch, erfolgreich, eloquent, scheinbar alles im Griff. Und du denkst: „Wie zum Teufel macht der das?“

Ich auch.

Torsten Sträter und das unsichtbare Chaos

Nimm zum Beispiel Torsten Sträter. Der Mann steht auf einer Bühne, erzählt berührende Geschichten mit trockenem Humor, und du denkst: Der hat sein Leben sowas von im Griff.

Aber wir sehen nur das Endprodukt. Nicht das Chaos im Kopf davor. Nicht den Moment morgens um 9, wenn der Tag schon nervt und die Deadline wie ein Esel mit Baseballschläger vor der Tür steht. Nicht die Selbstzweifel, den Frust, die Euphorie, bevor sie auf den Boden klatscht wie Platzregen. Hier findest du ein spannendes Gespräch über diese Themen.

Meine Theorie: Der Mann hat etwas gefunden, das größer ist als sein innerer Widerstand. Vielleicht ist es das Gefühl, gebraucht zu werden. Oder zu wissen, dass da draußen jemand auf ihn wartet. Oder einfach: eine Bühne, die ihn zwingt, zu liefern.

Simone Biles fliegt nicht aus Versehen

Kurzer Kontinentwechsel zu Simone Biles. Die Frau macht beim Turnen Dinge, bei denen die Physik spontan weinend die Halle verlässt. Auch sie hat ADHS. Aber was wir sehen, ist nur der Höhepunkt einer absurden Menge an Disziplin, Training und mentaler Achterbahn.

Ich glaube nicht, dass sie jeden Morgen motiviert aufwacht und denkt: „Heute turn ich mal wieder die Gravitation aus.“

Ich glaube, sie hat ein System um sich herum. Menschen, Termine, Verpflichtungen. Aber auch: einen Sinn. Vielleicht ein kleines Mädchen, das wegen ihr mit dem Sport anfängt. Vielleicht der Gedanke: „Ich darf auf keinen Fall aufgeben – nicht für mich, sondern für sie.“

Ferrari-Hirn in der 30er-Zone – mit Tempomat

Sarah Kuttner hat mal gesagt, ihr Gehirn sei ein „Ferrari“. Schnell. Kraftvoll. Nur leider oft in Straßen unterwegs, wo 30 erlaubt ist und an jeder Ecke ein Blitzer steht.

Ein Ferrari-Gehirn mag geil sein, ich hab auch eins. Aber es ist eben nicht gemacht für Spielstraßen.

Was ihr hilft? Struktur von außen. Deadlines, Shows, Buchverträge. Dinge, die den Ferrari zwingen, auf der Straße zu bleiben. Das Learning: ohne Leitplanken geht es nicht.

Auch sie wird vielleicht hie und da da sitzen und denken: „Was mach ich hier eigentlich?“ Aber dann kommt der Impuls: Menschen freuen sich. Menschen hören zu. Menschen fühlen sich gesehen. Und das ist manchmal genug, um wieder loszufahren.

Dieses Bild vom Ferrari-Gehirn lässt mich nicht los. Ein Hochleistungsmotor, der permanent bereit ist für 300 km/h, aber ständig in im beruhigten Stadtverkehr unterwegs ist. Mit Temposchwellen. Und Fußgängern, die plötzlich die Straße überqueren.

Was passiert? Du gibst Gas – bremst wieder. Gibst Gas – bremst wieder. Und manchmal denkst du: „Warum hab ich eigentlich so ein verdammtes Hochleistungsgehirn, wenn ich es nicht einsetzen darf?“

Die Antwort: Du darfst. Aber nicht überall. Und nicht immer gleich.

Ein Ferrari braucht einen Rundkurs. Keine Sackgasse. Und diesen Kurs musst du dir bauen – aus Deadlines, Routinen, Menschen, Sinn. Nicht, um „normal“ zu werden. Sondern um endlich fahren zu können, wie du gemeint bist.

Und dann ist da noch Felix

Felix Lobrecht: Geschmackssache, klar. Aber eins muss man ihm lassen: Der Typ hat einen Drive. Und ich glaube, am Anfang war das, was er tat, einfach ein Ventil.

Heute nutzt er seine Reichweite, um Dinge sichtbar zu machen, die sonst im Schatten bleiben würden.

Vielleicht war das nie der Plan. Vielleicht hat sich das entwickelt. Aber auch das zeigt: Ein übergeordneter Sinn kann entstehen. Nicht jeder startet mit einer Vision. Manchmal wird sie unterwegs geboren.

ADHS und das große Missverständnis

Viele ADHS-Menschen fühlen sich wie wandelnde Baustellen. Weil sie denken: „Ich müsste doch…“ Oder: „Andere kriegen das doch auch hin…“

Aber das Problem ist nicht der Mensch. Das Problem ist das Setup.

Du bist nicht zu chaotisch. Dein System ist zu starr. Du bist nicht zu faul. Dein Dopamin tanzt nur lieber HipHop als Marschmusik.

Holzpuppe sitzt auf Holzbuchstaben, auf denen Loser steht

Die drei Hebel, die wirklich was verändern

Ich glaube, ADHS-Menschen, die ihr Leben halbwegs schaukeln, nutzen drei Hebel, und die gleichzeitig. Wenn einer fehlt, wackelt das ganze Konstrukt.

1. Der Sinn – das übergeordnete Warum

„Finde deinen Sinn“ Dieser Satz klingt erstmal groß, bedeutungsschwer, fast schon spirituell überfrachtet. Und ganz ehrlich: Für viele ist genau das das Problem.

Weil wir denken, es müsse gleich die große Vision sein. Die Berufung. Der Beitrag zur Menschheit. Der Zweck der Existenz. Der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Die Berechtigung zum Sein.

Aber während wir versuchen, den Mount Everest der Sinnsuche zu besteigen, vergessen wir oft, dass es auch kleine, wunderbar unspektakuläre Hügel gibt, auf denen es sich ebenso gut stehen lässt.

Du musst kein Weltretter sein, um Bedeutung zu finden. Manchmal reicht es, zu wissen: Wenn ich jetzt die Küche aufräume, fühlt sich mein Morgen leichter an. Oder: Ich beantworte diese E-Mail, weil ich dadurch einem anderen Menschen Klarheit schenke. Oder: Ich gehe zur Arbeit, weil ich mir davon nächsten Freitag Sushi leisten will, und das ist, verdammt nochmal, ein guter Grund.

Sinn darf egoistisch sein. Oder klein. Oder nur für einen Tag gültig. Er muss dich nicht ein Leben lang begleiten. Er darf wechseln. So wie du.

Der Schlüssel ist, dich immer wieder zu fragen: Warum tue ich das gerade? Und nicht, weil du musst, sondern weil du es willst, oder zumindest nachvollziehen kannst.

Und wenn sich diese vielen kleinen Mini-Warums irgendwann verknüpfen zu einem Gefühl von Richtung, von innerem Halt, dann merkst du: Du hast gar nicht den Sinn gefunden. Du hast ihn dir gebaut. Er lauert hinter jeder Ecke. Man muss nur drum rum denken. Und das kannst du doch, oder?

2. Die Gewohnheiten – das konkrete Wie

Gewohnheiten sind keine Zauberformel. Kein „Ab heute wird alles anders“-Mantra. Sie sind eher wie kleine Kieselsteine, die du jeden Tag ein Stück weiter in dieselbe Richtung rollst. Nicht spektakulär. Manchmal nervig. Und oft auch einfach… unsichtbar.

Was sie für ADHS besonders macht: Sie dürfen sich verändern. Müssen es sogar. Routine ist bei uns kein starres Korsett, sondern eher so etwas wie ein Tanz. Manchmal zäh, manchmal überraschend elegant, aber immer in Bewegung.

Anstatt dich festzubeißen und zu denken: „Ich muss jetzt jeden Tag meditieren“, probier es mal so: „Ich teste das für zwei Wochen. Ich überlege vorher, woran ich erkenne, dass es mir guttut. Und am Ende entscheide ich, ob es bleibt.“

Wenn es nichts bringt? Weg damit. Ohne Drama. Ohne Schuldgefühle. Ohne Selbstoptimierungszwang.

Wenn es halbwegs funktioniert – also nicht nur nervt und nicht auslaugt – bleib dran. Nicht, weil du „müsstest“, sondern weil du weißt, dass es dir hilft. Dass es einen Effekt hat. Und manchmal reicht das schon.

Ohne Ziel kein Dranbleiben. Ohne Wiederholung keine Wirkung. Aber auch: Ohne Anpassung keine Nachhaltigkeit.

3. Das System – das tragende Womit

Ein System ist kein Käfig. Es ist ein Rahmen. Kein kalter Metallrahmen, sondern eher wie ein richtig guter Sport-BH: Gibt dir Halt, ohne dir die Luft zum Atmen zu nehmen.

Und ja, ADHS braucht Struktur. Aber nicht die Art, die dich morgens um sechs aus dem Bett brüllt. Eher etwas, das dich auffängt, wenn du fällst. Und dich erinnert, wenn du abschweifst.

Was helfen kann:

  • Deine Umgebung bewusst gestalten: Was du siehst, beeinflusst, was du denkst – und was du tust.
  • Konkurrenzreize eliminieren. Nicht alles gleichzeitig. Fokus sichtbar machen.
  • Verbindlichkeiten schaffen. Termine, Menschen, Gruppen, die dich freundlich zwingen, weiterzumachen.
  • Tools nutzen, die dich nicht überfordern. Lieber ein einfaches System, das du wirklich benutzt, als zehn fancy Apps, die dich nur stressen.

Und dann: regelmäßig zurückschauen. Zum Lernen, nicht zum Fertigmachen.

Stell dir jede Woche die Frage: „Was hat mir gutgetan? Was darf bleiben? Was kann weg?“

Denn am Ende ist es nie dein Fehler, wenn etwas nicht funktioniert. Es ist das Setup. Und das darfst du ändern. Immer wieder. So oft wie nötig.

Der Haken am „Nichts funktioniert“-Mantra

Weißt du, was ich wirklich denke, wenn jemand sagt: „Bei mir funktioniert einfach nichts“?

Ich denke: Du hast gehofft, dass ein System, das mal funktioniert hat, für immer funktioniert. Aber so läuft der Hase nicht.

Ein funktionierendes, halbwegs freudvolles und erfüllendes Leben mit (oder trotz) ADHS generiert sich nicht auf einem einmaligen Setup. Es ist ein immer wieder neues Ausrichten. Ein Phönix, der sich regelmäßig aus den verkohlten Resten seiner letzten Routine schält. Mit neuer Frisur und einer leicht genervten Haltung.

Es ist Überwindung. Aber eine, die sich austricksen lässt. Mit Sinn, der greifbar ist. Mit Gewohnheiten, die flexibel sind. Mit Systemen, die dich nicht einsperren, sondern unterstützen.

Du bist nicht zu schwach, zu chaotisch oder zu undiszipliniert. Du bist nur an einem Punkt, an dem dein altes Setup nicht mehr passt. Und das ist kein Drama. Das ist eine Einladung.

symbolhafte darstellung eines Kopfes der ADHS hat

Mach dir dein System – in deiner Reihenfolge

Nicht: erst Tools. Nicht: erst Tracker. Sondern: Erst Sinn. Dann Habit. Dann System.

Denn wenn du weißt, wofür du dich morgens aufraffst, dann wird die Gewohnheit zum Geschenk, und das System zum Werkzeug, nicht zum Käfig.

Und ja, das ist anstrengend. Aber weißt du, was noch anstrengender ist? Sich jeden Tag wie ein Versager zu fühlen. Und zu glauben, man sei zu kaputt für diese Welt.

Was ist dein übergeordneter Zweck?

Was bringt dich zum Aufstehen, auch wenn es schwer ist? Was ist größer als du?

Wenn du das für dich beantworten kannst, und sei es nur für heute, dann ist der Rest einfach “nur” Technik.

Du wirst es noch oft von mir hören: Mach es nicht alleine. “Du alleine schaffst es, aber du schaffst es nicht alleine” lautet das Mantra.

Entlastung findest du direkt bei mir, schreib mir einfach an hallo@katarin-mattiza.de oder in der Lost Unicorn Society.


Und falls du gerade in einer depressiven Phase steckst: Dann gilt das hier gerade nicht. Du brauchst erstmal Heilung. Sanftheit. Geduld. Nimm dir, was du brauchst. Du bist nicht zu spät. Du bist genau richtig.