Ich habe mir mal ein Dachzelt fürs Auto gekauft. Einfach so. Kurz nach der Pandemie. Corona-Prämie vom Arbeitgeber bekommen und gedacht: „Jetzt lebe ich minimalistisch, wild und frei! Vielleicht auch barfuß. Einfach losfahren und dann wird das schon.“ Was man halt so denkt, wenn man auf einmal viel Geld aufm Konto hat.

Ich hab’s seither genau viermal benutzt. Zwei Ostsee-Trips, zweimal Italien, in 3 Jahren. Klingt erstmal nach Abenteuer, war aber eher: minimalistisches Realitätsfernsehen mit mir in der Hauptrolle, abgesetzt nach Folge 1. Ich habe gelernt: Ich kann sehr wohl mit wenig leben. Ich will nur nicht. Ziemlich stressig irgendwie. Außerdem habe ich immerhin gelernt: wenig bis keine Angst, alleine unterwegs zu sein.

Aber in dem Moment des Kaufs war das alles egal. Mein Gehirn war im Dopamin-Notstand gekoppelt mit (finanziellen) Möglichkeiten. Es schrie: „DOPAMIN! JETZT! Ich weiß schon wie!“, und der Teil, der normalerweise sowas flüstert wie „Warte doch bis morgen“ oder „Willst du das wirklich?“, der war auf stumm geschaltet. Vermutlich offline, oder Kaffee holen.

Ich war nicht betrunken. Ich war nicht traurig. Ich war einfach nur überfordert von der Leere und der Fülle gleichzeitig, also hat mein Gehirn gesagt: „Lass uns irgendwas Krasses machen. Kaufen. Planen. Verändern. Hauptsache: was passiert.“

Blonde Frau sitzt auf Leiter eines Dachzelts auf weißem Auto

Willkommen in der wunderbaren Welt der Impulsivität

Aber Moment. Ist das nicht dasselbe wie Hyperaktivität? Beides irgendwie… viel Energie und so? Nope. Auch wenn die beiden oft im selben Atemzug genannt werden und sich gerne mal die Hand reichen, sind sie nicht dasselbe. Und genau darum geht’s heute: Was ist der Unterschied? Wie zeigen sie sich? Und warum zum Teufel macht mein Gehirn das überhaupt?

Willkommen in Teil 4 der Reihe „Neurodivergent verstehen“. In Teil 1 habe ich auf die Sprache geschaut, Teil 2 dreht sich um die Suche nach dem Dopamin. Im letzten Teil habe ich die Task Paralyse unter die Lupe genommen. Heute nun das, was viele per se mit ADHS verbinden: Impulsivität und Hyperaktivität.

Schnall dich an. Es wird turbulent.


Impulsivität bei ADHS: Warum dein Gehirn handelt, bevor du denkst

Impulsivität ist, wenn dein Gehirn handelt, bevor dein Verstand überhaupt eine Chance hatte, mitzureden. Es ist keine geplante Entscheidung, sondern ein reflexartiger Move: aus dem Moment heraus, ohne Rücksicht auf Verluste. Dein Fokus liegt komplett auf dem Jetzt. Und was danach kommt? Das ist Problem vom Zukunfts-Ich. Viel Glück, mein Freund.

Der Dopamin-Notfall: Warum dein Gehirn den Panikknopf drückt

Erinner dich an den Dopamin-Dollar aus Teil 2. Wenn dein Konto leer ist oder schon tief im Minus dümpelt, schaltet dein Gehirn in den Überlebensmodus. Kein Raum für Planung, kein Raum für Vernunft. Nur noch: „ICH BRAUCHE DOPAMIN. SOFORT. EGAL WOHER.“

Und dann passiert’s, ganz real:

  • Du bestellst dir nachts um halb drei ein handgeschnitztes 400-Euro-Küchenmesser, obwohl du eigentlich Toast mit Plastikmesser schneidest.
  • Du lässt mitten im Meeting einen Satz raus, der im Kopf noch wie ein Witz klang, aber im Raum wie eine Kündigung wirkt.
  • Du buchst eine Reise, weil dir das Urlaubsbild auf Instagram wie ein Rettungsring vorkam. Ob du Geld, Urlaubstage oder überhaupt einen Pass hast? Who cares.
  • Du beendest aus dem Nichts eine Beziehung, weil du in dem Moment das Gefühl hattest, dass alles zu viel ist.

Und manchmal (das darf nicht unerwähnt bleiben) richtet sich diese Impulsenergie auch gegen dich selbst oder andere. Worte, die verletzen. Türen, die knallen. Hände, die nicht an ihrem Platz bleiben. Du bist dadurch nicht per se „ein schlechter Mensch“. Dein Nervensystem steht unter Hochspannung und findet keinen besseren Weg, das Feuer rauszulassen. (Erklärung, NICHT Entschuldigung!)

Nochmal zum Mitschreiben: Das ist kein Charakterfehler!

Das ist ein Systemfehler auf chemischer Ebene. Dein Gehirn drückt den Panikknopf, wenn’s emotional zu eng wird, und der Lösungsweg ist nicht „vernünftig nachdenken“, sondern „irgendwas tun, um den Druck loszuwerden“. 

Dein System hat den Arbeitsauftrag: Löschen des größten Feuers zuerst. Und das größte Feuer ist JETZT. Die Langeweile, der emotionale Absturz, die sensorische Überforderung. Die Konsequenzen von morgen? Die brennen noch nicht, die sind noch Zukunftsmusik. Und für die interessiert sich dein Gehirn in dem Moment genau null.

Meme zu Impulsivität - Pärchen läuft uf straße, in gegenrichtung frau mit rotem oberteil, mann von pärchen schaut ihr hinterher, dessen freundin schaut entsetzt

Wie zeigt sich Impulsivität im Alltag?

Oder auch: „Ich hab’s nicht kommen sehen, obwohl ich es kommen sehen konnte“.

Im Erwachsenenalter kann Impulsivität viele Gesichter haben, und sie tragen nicht alle ein Warnschild.

Im Alltag:

  • Du scrollst nachts durch Etsy und bestellst handgemachte Keramik aus Portugal, obwohl du nur neue Socken wolltest.
  • Du kündigst deinen Job spontan, weil dein Chef ein „Hmmm“ zu viel gemacht hat.
  • Du ziehst um, in eine Stadt, in der du niemanden kennst. Nur, weil die Wohnung auf dem Foto schön aussah und du “eine neue Umgebung” brauchst.
  • Du isst innerhalb von zehn Minuten vier Tiefkühlpizzen. Das hat nix mit Hunger zu tun, viel mehr will dein Gehirn was fühlen und nutzt bescheuerte Wege dafür.

Im sozialen Kontext:

  • Du platzt in Gespräche rein, weil du sonst vergisst, was du sagen wolltest. (Story of my life)
  • Du erzählst intime Dinge in der ersten Tinder-Nachricht. (Oversharing anyone?)
  • Du redest dich in Rage, obwohl niemand mehr zuhört.
  • Du sagst was richtig Dummes. Du meinst es nicht so. Dein Mund war schneller als dein Hirn (Story of my life, again…)

Emotional:

  • Du zündelst an Konflikten, einfach um zu spüren, dass da noch was ist, und bemerkst das erst in einem ruhigen Moment viel später.
  • Du suchst Drama wie andere Leute WLAN. Weil es dir kurz das Gefühl gibt, lebendig zu sein.
  • Du hängst dich an toxische Dynamiken, weil sie dich wenigstens aktivieren. (Nicht unbedingt bewusst! Aber durchaus aktiv)

In dem Moment fühlt es sich alles nicht wie ein Fehler an. Es fühlt sich notwendig an. Unaufhaltsam. Wie der einzig verfügbare Ausweg aus diesem inneren Druckkessel. Du kriegst einen kurzen Kick, vielleicht sogar ein „Yes!“, aber dann… kommt das Echo.

„Oh. Shit. Was hab ich da getan?“
Und manchmal: „Warum schon wieder?“
Und noch fieser: „Wieso konnte ich Trottel das nicht stoppen, ich hab es mir doch so sehr vorgenommen! Ich elender Versager.“

Emotionale Impulsivität: Wenn Gefühle ohne Filter durchbrechen

Und dann ist da noch die andere Seite der Impulsivität.

Wut, Trauer, Angst, Ohnmacht, aber auch Freude: sie alle schlagen bei ADHS oft schneller und härter zu. Als hätte dein Gehirn keinen emotionalen Vorfilter, sondern nur einen Expresszug direkt ins Nervensystem.

Was andere mit einem inneren „Hm, das nervt mich gerade“ abtun, löst bei uns eine komplette Systemmeldung aus: ALLE ALARME AN. GEFÜHL ÜBERFLUTET. SOFORT HANDELN. Dem hau ich auf’s Maul!

Diese emotionale Impulsivität wird oft übersehen, runtergeredet oder verharmlost. Aber sie ist real. Sie ist laut. Sie macht dich streitlustig, nah am Wasser gebaut oder blitzschnell verletzt, je nachdem, welcher emotionale Button gerade gedrückt wurde. Und das passiert meist, bevor du überhaupt merkst, dass da ein Button war.

Auch das ist weder Ausrede noch Entschuldigung. Aber es ist eine Erklärung.

Impulse zu kontrollieren, lernt man als Mensch mit ADHS nicht intuitiv. Man trainiert sie – wenn überhaupt – so mühsam wie man einem jungen Hund das „Bleib!“ beibringt. Nur dass der Hund in deinem Fall aus Emotionen besteht und gleichzeitig brennt.

Bild eines STraßenschildes das in 5 Richtungen zeigt, darunter das Wort "Impulse"

Exekutive Funktionen: Warum der „Stopp“-Button nicht funktioniert

Im Modell der exekutiven Funktionen gehört Impulsivität zur Kategorie „Aktion“. Klingt erstmal nach coolen Moves, ist aber einfach nur das Fachwort für: Ich kann mich (nicht) selbst regulieren. Also Entscheidungen treffen, Impulse kontrollieren, Dinge steuern statt mich ihnen voll hinzugeben.

Und bei ADHS? Naja… sagen wir mal: Die Steuereinheit hat einen Wackelkontakt.

Zuständig für diesen ganzen Kontroll-Kram ist der präfrontale Cortex, unser „innerer CEO“. Der Teil im Kopf, der eigentlich dafür da ist, zwischen „gute Idee“ und „lass das, du Trottel“ zu unterscheiden.

Aber wenn dieser CEO chronisch unterzuckert ist, was Dopamin angeht und deine Amygdala den armen Kerl einsperrt? Dann läuft da nix. Keine Meetings. Keine Memos. Keine Entscheidung auf Basis langfristiger Strategien.

Der Impuls kommt, das System zuckt und zack: Handlung ausgeführt.

Nix mit Stoppschild, 10 mal tief Atmen, „erst denken vorm reden“. Die Sicherheitsabfrage: „Wollen Sie diesen Schritt wirklich ausführen?“ verpufft.

Und das betrifft eben nicht nur Taten, sondern auch Gefühle. Denn wenn der präfrontale Cortex streikt, ist nicht nur die Hand ungebremst, sondern auch die Wut. Die Tränen. Der Frust.


Hyperaktivität erklärt: Der innere Motor, der nie ausgeht

Hyperaktivität bedeutet nicht immer, dass jemand durch den Raum hüpft wie ein aufgezogener Flummi. Sie ist vielmehr konstante, hohe Energie. Ein innerer Strom, der nicht versiegt. Ein System, das niemals ganz runterfährt, weder im Kopf noch im Körper.

Manche erleben das sichtbar. Andere nur spürbar. Und beides ist Hyperaktivität.

Externe Hyperaktivität: Die laute Version

Die eine Seite ist das, was alle kennen. Die „laute“ Version. Der Körper in Bewegung, ständig. Zappeln, aufstehen, herumgehen, mit den Beinen wippen, mit den Fingern klopfen, Haare zwirbeln, Nägel kauen, Stift klicken, mit dem Stuhl kippeln, dann wieder aufstehen, dann doch wieder setzen. Rinse and repeat.

Es ist die Form, die in Schulen auffällt, auf Elternabenden diskutiert wird und bei Jungs statistisch gesehen öfter zur Diagnose führt. Nicht unbedingt, weil sie schlimmer ist. Sie ist einfach sichtbarer.

Diese Hyperaktivität stört. Sie unterbricht den Unterricht, das Meeting, das Abendessen. Sie ruft Aufmerksamkeit (und damit manchmal auch Hilfe) hervor.

Meme zu Hyperaktivität

Interne Hyperaktivität: Das unsichtbare Dauerfeuer

Und dann gibt es die andere Seite. Die stille. Die, die niemand sieht.

Die innere Hyperaktivität. Das unsichtbare Dauerfeuer im Kopf. Ein Gedankenstrom, der nicht abreißt. Eine mentale Unruhe, die sich nicht einfach mit Yoga oder einem „Jetzt beruhig dich mal“-Tee wegatmen lässt. Du sitzt da, äußerlich still, vielleicht sogar lächelnd, während in deinem Inneren ein komplettes neuronales Drum-Solo läuft.

Es fühlt sich an wie ein überhitzter Laptop, der außen ganz ruhig aussieht, aber innen röhrt wie ein Düsenjet. Und genau das macht diese Form so schwer zu erkennen, für andere, und auch für dich selbst.

Statt einer Diagnose, genauem Hinsehen und Hilfsangeboten gibt’s dann oft: „Du bist echt sensibel.“ Oder „Du denkst zu viel nach.“ Oder das wunderschöne „Du übertreibst mal wieder völlig.“

Nein, tust du nicht!

Gerade Frauen und Mädchen zeigen häufiger diese stillere Form. Und genau deshalb bekommen sie ihre Diagnose oft Jahre, viele Fehldiagnosen und immensen Leidensdruck später, wenn überhaupt. Studien zeigen: Im Schnitt vier Jahre nach Jungs. Bei vielen Frauen erst in den 30ern oder 40ern. Nach einem Leben voller „Reiß dich zusammen“, „Ist doch nicht so schlimm“ und dem nagenden Gefühl: Irgendwas stimmt mit mir nicht. Aber niemand sieht’s.

Stimming: Dein körpereigenes Sicherheitsventil

Wenn Hyperaktivität bedeutet, dass dein System permanent auf Standby mit Koffeinschub läuft, dann ist Stimming der Versuch deines Körpers, damit irgendwie klarzukommen (ohne aus dem Fenster zu springen oder das Wohnzimmer umzuräumen).

Zappeln. Wippen. Tippen. Trommeln. Haare zwirbeln. Lippen bewegen, ohne zu reden. Das alles fällt unter „Stimming“: selbststimulierendes Verhalten, das hilft, den inneren Druck zu regulieren. (Ich muss mir nie meinen kleinen Fingernägel schneiden, komisch…….)

Nicht jede Hyperaktivität äußert sich in riesigen Gesten. Oft ist sie klein, rhythmisch, repetitiv. Versteckt, maskiert und voll automatisiert.

Wenn die Energie im Körper oder Kopf zu groß wird (was bei Hyperaktivität quasi Dauerzustand ist), braucht sie ein Ventil. Ein regelmäßiges, kontrollierbares, idealerweise auch ungefährliches.

Stimming ist dieses Ventil. Es ist wie ein Sicherheitsventil an einem überhitzten Topf: Du lässt ein bisschen Dampf ab, damit dir nicht die ganze Küche explodiert.

Neurobiologisch gesehen ist es auch ein Weg, Dopamin nachzuliefern oder zumindest den Mangel zu kompensieren. Bewegung = Input. Und Input = zumindest kurzzeitig das Gefühl von Regulation.

Wichtig: Stimming ist nicht dasselbe wie Impulsivität oder Hyperaktivität!

Schau mal genau hin, was in dir und mit deinem Körper los ist, kurz bevor der Druck im Kessel sich entledigt. Irre, sag ich dir. 

Für Außenstehende mag das dann alles aussehen wie nervöses Rumgezappel oder schlechte Manieren.

„Kannst du mal stillsitzen?“
„Hör auf, mit dem Fuß zu wippen.“
„Das macht mich wahnsinnig!“

Was sie nicht sehen: Das ist das, was uns davor schützt, komplett wahnsinnig zu werden, und was teilweise auch echt schwer zu lenken ist.

Bild von verschiedenen Fidget Toys
Fidget Toys (die bunte, eher nervige Variante)

Impulsivität vs. Hyperaktivität: Der entscheidende Unterschied

Beide Begriffe tauchen bei ADHS ständig gemeinsam auf, und manchmal sieht es so aus, als wären sie das gleiche Ding in anderer Verpackung. Nee, wir wissen jetzt: Sie sind verwandt, ja, aber nicht identisch. Sie hängen miteinander rum, befeuern sich gegenseitig, schlafen aber in getrennten Betten.

Impulsivität ist das, was passiert, wenn dein Gehirn handelt, bevor es denkt. Ein Kommentar, der rausflutscht. Ein Kauf, den du nicht geplant hast. Ein Streit, den du nicht führen wolltest. Sie ist reaktiv: dein System erlebt etwas, und BOOM: Handlung.

Hyperaktivität dagegen ist mehr ein Zustand. Ein Dauerrauschen aus zu viel Energie, innerlich oder äußerlich. Dein Körper will sich bewegen, dein Gehirn will irgendwas denken. Egal was, Hauptsache es steht nicht still.

Bildlich gesprochen:

Impulsivität ist der unerwartete Kurzschluss. Der Toaster springt plötzlich von der Theke und keiner weiß warum, aber da liegt er jetzt.

Hyperaktivität ist der alte Kühlschrank, der rund um die Uhr brummt, laut, nervig, und nie ganz aus.

Oder anders:

  • Impulsivität ist der Feuerwerkskörper, der einfach losgeht.
  • Hyperaktivität ist das Dauerflackern der Neonröhre über’m Kopf.
  • Impulsivität fühlt sich an wie ein Notfall: Ich MUSS das jetzt tun.
  • Hyperaktivität fühlt sich an wie Daueranspannung: Ich kann nicht abschalten.

Beide werden durch Dopaminmangel getriggert, klar. Aber die Art, wie dein Gehirn darauf reagiert, ist unterschiedlich. Impulsivität will den Kick jetzt. Hyperaktivität will ständig in Bewegung bleiben, damit überhaupt irgendwas passiert und ab und an etwas Dopamin ins Hirn dröppelt.

In der hyperaktiv-impulsiven ADHS-Variante tanzen die beiden ständig zusammen Walzer.

Aber: Man kann impulsiv sein, ohne körperlich hibbelig zu wirken. Und man kann hyperaktiv sein, ohne ständig dumme Entscheidungen zu treffen.


ADHS-Präsentationen: Welche Rolle spielen die beiden?

ADHS ist nicht gleich ADHS. Es gibt (du ahnst sicher was gleich kommt) drei offizielle Präsentationen. Und wie so oft bei Diagnosen: keine davon passt je 100% auf dein echtes Leben. (wer hätte das gedacht :D)

1. Die unaufmerksame Präsentation

Hier steht Konzentration auf der Abschussliste: Tagträumerei, ständiges Verlieren von Sachen, Aufgaben anfangen und… dann nie wieder. Hyperaktivität oder Impulsivität? Eher selten oder subtil.

2. Die hyperaktiv-impulsive Präsentation

Hier ist der Körper (oder das Sprachzentrum) ständig in Bewegung. Unterbrechen, rumspringen, Entscheidungen ohne Rückfahrschein treffen, das ganze Paket. Konzentrationsprobleme sind eher nicht so das Hauptproblem.

3. Die kombinierte Präsentation

Also: alles gleichzeitig. Konzentration im Eimer, Impulssteuerung ein Witz, und der innere Motor läuft Tag und Nacht. Herzlichen Glückwunsch, du hast das Komplettset.

Die meisten Menschen mit ADHS gehören zur kombinierten Variante. Was bedeutet: Es ist selten „nur“ das eine oder das andere. Es ist eine bunte Mischung aus „Ich kann nicht stillsitzen“ und „Ich habe vergessen, dass ich überhaupt irgendwo sitzen sollte“.

(Lucky us, ich hab auch den Jackpot. Gibt’s das auch mit Cashback?)

Bild einer großen kräftigen Welle
Symbolbild für das neurodivergente Innenleben 😀

Autismus und Impulsivität: Was ist mit AuDHS?

Hier wird’s spannend. Denn Impulsivität ist kein klassisches Merkmal von Autismus.

Menschen im autistischen Spektrum ticken anders (auch das ist nicht neu) aber eben nicht unbedingt impulsiv.

Was typisch für Autismus angesehen wird:

  • eine andere Art der sozialen Kommunikation
  • intensive Special Interests
  • sensorische Sensibilität oder Reizüberflutung
  • ein starkes Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Struktur

Spontanität, Chaos, Reizsuche? Not exactly their jam.

Impulsivität wie hier beschrieben ist eher nicht im Standardpaket enthalten. Autistische Gehirne sind oft vorsichtig, regelorientiert und sicherheitsliebend, also quasi das Gegenteil vom ADHS-Impulssprung-ins-Drama.

ABER! Viele Autist*innen haben auch ADHS.

Man nennt es dann: AuDHS. Und in dieser Kombi kommt die Impulsivität eben durch die Hintertür rein.

Der Autismus will Routine, das ADHS will Risiko.
Der Autismus will Struktur, das ADHS brüllt: „YOLO!“
Und du stehst dazwischen und versuchst zu entscheiden, ob du deinen Kleiderschrank alphabetisch sortieren oder einfach abfackeln sollst. Du tust wahrscheinlich keins von beidem. Du scrollst drei Stunden durch Bahntickets, während du deinen Lieblingsstift verlierst.


Reframing: Ist da auch was Gutes dran? (Aber bitte ohne Einhornstaub)

Manchmal fühlt sich ADHS an, als würde dein Gehirn gleichzeitig schreien, rennen und auf einem Trampolin jonglieren, mit Kettensägen. Und dann sagt irgendwer: „Denk doch mal positiv, das ist deine Superkraft!“

Halt’s Maul, Karen. Sag das meinem Kontostand, meiner Inbox und der Müslischale, die ich gestern voller Überzeugung im Bücherregal abgestellt hab.

Und trotzdem, TROTZDEM gibt’s da was, was wir uns zurückholen können.

Wenn andere noch abwägen, handelst du.
Wenn’s brennt, kannst du dich bewegen.
Wenn etwas Neues passiert, bist du schneller drin als alle anderen.

Das ist keine Entschuldigung für impulsive Ausraster, toxisches Verhalten oder Chaosshopping. Denn manchmal ist sie auch einfach nur dumm. Aber du bist nicht dumm. Du hast nur ein System, das manchmal zu schnell auf „Los“ drückt.

Hyperaktivität ist nicht nur Rumgezappel. Es ist dein System, das zu viel Energie speichert und nirgends hin kann. Es ist das ewige „Mach was!“, auch wenn du längst im Energiemodus „bitte alles abbrechen“ bist.

Aber diese Energie kann auch tragen. Sie kann Ideen anschieben, Dinge in Gang bringen, Räume beleben.

Und zusammen?

Zusammen machen sie dich manchmal fertig und gleichzeitig verdammt fähig. Klar bist du kein Superheld mit Superkraft, aber du hast wahrscheinlich gelernt, auf einem wackeligen inneren Boden irgendwie geradeaus zu laufen. Das verdient einen Orden!

Es wird nicht immer gut funktionieren. Du wirst Entscheidungen treffen, bei denen du drei Wochen später mit dem Kopf gegen die Wand haust (eventuell wortwörtlich). Du wirst unruhig sein, wenn alle anderen entspannen. Und dann müde, wenn endlich was passiert.

Aber vielleicht – nur vielleicht – kannst du aufhören zu denken, dass das alles nur falsch ist.

abstraktes Bild von farbigem Rauch

Was hilft konkret? (Spoiler: nix davon ist magisch)

Ja, ich weiß. Du willst eine schnelle Lösung. Einen Knopf. Eine Pille. Ein Exit. DIE Übung, die alles fixt. Aber du weißt es innerlich selbst: Gibt’s nicht, auch wenn es viele versprechen.

ADHS ist kein kaputtes Fahrrad. Du kannst es nicht einmal flicken und dann rollt’s wieder.

Es ist eher wie ein sehr niedlicher, sehr nerviger Welpe: laut, hibbelig, macht manchmal aufs Sofa, und du musst dich trotzdem jeden Tag um ihn kümmern. Mit Geduld. Und Snacks. Und genau so darfst du dich selbst auch behandeln.

Aber gut. Du kannst diesen metaphorischen Welpen (aka dein Gehirn) nicht wegzaubern. Aber du kannst ihm was beibringen.

Für Impulsivität, den inneren Feueralarm

1. Die 24-Stunden-Regel
Wenn’s nicht um Leben und Tod geht (Spoiler: geht’s fast nie), dann: nicht sofort handeln. Schlaf drüber. Oder dusch. Oder schreib’s in eine Notiz, die du morgen eh nicht mehr liest. Lenk es irgendwie um. (Das hätte gewiss verhindert, dass ich jetzt ein beknacktes E-Bike habe)

2. Hol dir ein Außen-Gehirn
Sprich mit jemandem, bevor du große Entscheidungen triffst. Accountability klingt fancy, heißt aber nur: lass jemand drübergucken, bevor du dein Leben umkrempelst, weil der Bus zu spät kam.

3. Kleine Dopamin-Drops
Achte darauf, dass dein Dopamin-Konto nicht zu leer wird. Kleine, regelmäßige Dopamin-Hits (Musik, Bewegung, Belohnungen) verhindern den Notfallmodus.

Betrachte dich wie ein Smartphone mit uraltem Akku: lieber öfter mal laden als warten, bis du plötzlich bei 1% panisch Tinder Premium buchst.

Für Hyperaktivität, den inneren Ameisenhaufen

1. Bewegung einbauen
Wenn du nicht stillsitzen kannst, setz dich nicht hin. Steh auf. Stehschreibtisch. Wackelboard. Heimlaufband. Mach kurze Spaziergänge. Sitz nicht in Zoom-Calls wie ein Stein mit Burnout, sondern fummel an Fidget Toys rum.

2. Stimming akzeptieren
Zappeln ist okay. Es ist Selbstregulation. Lass es zu. Du regulierst dich so. Andere regulieren sich mit Kaffeetassen und Smalltalk. Du halt mit Geräuschen und Bewegung. Gönn dir.

3. Pausen für innere Unruhe
Wenn dein Hirn rast, ist Stillstand die Hölle. Aber bewusste Pausen (gerne random am Tag: Atemübungen, Augen zu, 5 Minuten Nichtstun) können wie ein kleiner Reset wirken. Und bevor du jetzt laut schreist „AbEr BeI miR gEHt dAs NICht!“ – Wie lange hast du es versucht? Und bist dran geblieben? Yeah I know… Fuck, man muss das üben!

ADHS-Medikamente: Das Tool mit dem schlechten Ruf

Ja, Medikamente können helfen. Und ja, das Internet und überhaupt viele Menschen haben dazu viele (hierfür irrelevante) Meinungen.

Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetamine pushen deinen Dopamin- und Noradrenalinspiegel, sodass dein präfrontaler Cortex (aka dein innerer CEO, der sonst dauernd Kaffeepause macht) wieder arbeiten kann.

Was das konkret bedeutet:

  • Dein „Stopp“-Button funktioniert öfter
  • Impulsive Reaktionen werden handhabbar
  • Die innere Hyperaktivität macht Pause
  • Du kannst Konsequenzen abwägen, bevor du handelst

Sie machen dich nicht zu einem anderen Menschen und dein Gehirn nicht zahm.

Sie helfen, einen klareren Kopf zu bekommen, der dann immer noch mit Selbstzweifeln, Rejection Sensitivity und fünf offenen Tabs kämpft. Sie sind ein Werkzeug. Kein Ersatz für Strategien, Unterstützung oder (sorry not sorry) Eigenverantwortung.

Meme zu Quick Fix vs Nachhaltig etwas ändern. Auf der einen seite der quick fixes steht eine lange schlange, auf der anderen keiner

Fazit: Du bist nicht außer Kontrolle

Impulsivität und Hyperaktivität sind keine Charakterfehler. Sie sind neurologische Realitäten. Dein Gehirn arbeitet anders: schneller, intensiver, hungriger nach Dopamin.

Das bedeutet nicht, dass du machtlos bist. Du kannst dein Hirn nicht gegen ein anderen tauschen. Aber es bedeutet, dass du anders arbeiten musst (solltest) als neurotypische Menschen.

Sei gnädig mit dir selbst.

Wenn du mal wieder das Dachzelt gekauft hast oder um 3 Uhr morgens 200 Euro für Häkelgarn ausgegeben hast – du bist (immer noch) nicht kaputt. Dein Gehirn hat nur gerade das größte Feuer gelöscht.

Du bist nicht zu viel. Du bist nicht zu wenig. Du bist anders verdrahtet. Und das darf sein. Die Evolution hat sich was dabei gedacht.


Disclaimer: Ich bin kein Psychiater/Psychologe, sondern Betroffene und habe mich enorm viel mit diesen Themen auseinander gesetzt und Zertifikate als Neuroscience-, ADHS- und Neurodiversitätscoach.

Gerade Themen wie Impulsivität und emotionale Dysregulation gehören in professionelle Hände, wenn sie dein Leben massiv beeinträchtigen!

Mehr zu ADHS, Autismus und dem ganzen AuDHS-Paket gibt’s in den nächsten Teilen dieser Serie. Bis dahin: Bleib neugierig, bleib chaotisch, bleib du.Dir ist vielleicht gerade ein Licht aufgegangen? Teil dich mit, das ist immens wichtig! Wenn du keinen Menschen hast – wende dich gerne an mich unter hallo@katarin-mattiza.de oder komm in meine Community: Die Lost Unicorn Society