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Ich habe zwei Mal ein Studium verkackt. Nicht, weil ich dumm bin oder keinen Bock hatte (auch wenn ich das lange dachte), sondern weil mein Gehirn mit diesen Langzeitzielen einfach nichts anfangen konnte. Eine Abschlussarbeit in 36 Monaten? Klausuren, für die man Wochen lernen muss? Für mein Gehirn war das wie ein unbezahltes Praktikum. Null Return, null Motivation, null Dopamin.

Aber wenn mich etwas anfixte? Oh, dann ging’s ab. Neue Hobbys wie Steine bemalen (drei Wochen intensiv, dann nie wieder angefasst). Spannende Bücher, die ich in einer Nacht durchgesuchtet habe. Spontane Entscheidungen wie „Ich gehe ab jetzt jeden Tag joggen!“. Meine Laufschuhe lachen immer noch, in der hintersten Ecke meines Schrankes. 

Lange habe ich nicht verstanden, was dahintersteckt. Erst mit der Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS, Neurodivergenz und letztlich meiner Diagnose fiel der Groschen: Es geht um Dopamin. Und bei ADHS läuft das System etwas unrunder.

Bei neurotypischen Menschen läuft das System rund. Aufgabe erledigt? Zack, Dopamin-Ausschüttung. Kleiner Erfolg? Boom, Belohnungsgefühl. Aber bei uns ADHS-Gehirnen? Da läuft’s eher wie ein kaputter Automat: Entweder wird zu wenig Dopamin produziert, es wird nicht richtig gespeichert, oder die Rezeptoren schnappen es einfach nicht. Das Resultat? Wir sind chronisch unterbezahlt – in Dopamin-Dollar, versteht sich.

Und genau deshalb ist unser Gehirn permanent auf der Pirsch. Es sucht, jagt und schnappt sich jede verfügbare Dopaminquelle. Dieser Drang, das sogenannte Dopamine Seeking, ist keine Marotte oder Charakterschwäche. Es ist pure Neurobiologie, Baby.
Teil 2 der Serie „Neurodivergent verstehen“ dreht sich um die bekannteste Eigenschaft: Die Jagd nach Dopamin.

Der Dopamin-Dollar: Warum normale Aufgaben sich anfühlen wie unbezahlte Praktika

Lass uns das mal in Geld übersetzen, denn Geld versteht jeder.

Neurotypische Gehirne bekommen für alltägliche Kram einen fairen Lohn: 5 Dopamin-Dollar fürs Wäschefalten, 5 Dopamin-Dollar fürs Bezahlen einer Rechnung, 5 für die Mail-Antwort. Nicht viel, aber stetig. Am Ende des Tages haben sie ein solides Dopamin-Einkommen angehäuft.

Wir hingegen? Wir kriegen für dieselbe Scheiß-Arbeit gerade mal 1 Dopamin-Dollar. EINEN! Versuch mal, damit über die Runden zu kommen. Kein Wunder, dass unser Gehirn keinen Bock auf Steuererklärungen oder Geschirr hat. Das lohnt sich einfach nicht.

Zwei Comicfiguren sitzen nan einem Tisch, links mit ADHS, rechts ohne, und zwischen ihnen ein Glas mit Geld, auf dem Dopamin Dollars steht
Ok, ich übe noch, Bilder mit KI zu erstellen… 😀

Also was macht unser cleveres, aber unterbezahltes Gehirn? Es geht auf die Jagd nach dem Dopamin-Jackpot. Zuckerrausch? 10 Dopamin-Dollar. Online-Shopping-Tour um Mitternacht? 15 Dopamin-Dollar. Diese eine Hyperfixierung auf viktorianische Tapetenmuster um 3 Uhr morgens? 20 Dopamin-Dollar, instant.

Was genau ist der Sinn von Dopamin? Dopamin hat nichts mit Belohnung zu tun, sondern wird ausgeschüttet bei der AUSSICHT auf Belohnung! Unser ADHS-Gehirn jagt nicht der Belohnung an sich hinterher, sondern dem Versprechen einer Belohnung. Der Dopamin-Hit kommt bei der Vorfreude, der Erwartung, dem „Das könnte gut werden!“-Moment. Deshalb sind wir so anfällig für neue Projekte, spontane Ideen und den nächsten Scroll, jeder davon verspricht den nächsten Kick, und kriegen für so lapidare Dinge wie das Bad putzen oder die Ablage machen den Arsch einfach nicht hoch.

Wir sind nicht faul. Unser Gehirn arbeitet nur “anders” ökonomisch. Warum sollte ich 20 öde Aufgaben erledigen, wenn ich mit einer einzigen spannenden Aktivität denselben Dopamin-Ertrag einfahren kann?

Warum dein Handy dein bester Freund (und schlimmster Feind) ist

Ah ja, das Smartphone. Der absolute MVP des Dopamine Seeking. Oder sollte ich sagen: der Dealer deines Vertrauens?

TikTok, Instagram, YouTube-Shorts – das sind die Dopamin-Slot-Machinen schlechthin (und das ist keine neue Erkenntnis 😉. Jeder Swipe, jeder Scroll, jedes neue Video: ein kleiner Dopamin-Hit. Schnell, einfach, unendlich verfügbar. Kein Wunder, dass wir instinktiv zum Handy greifen, sobald es langweilig wird. In der Werbepause. Im Wartezimmer. Auf dem Klo. Beim Warten auf den Wasserkocher (ja, auch das).

Comicbild, Handy als Dopamindealer in einem dunklen Hinterhof, liockt Mensch durch leuchten an
Der Dealer deines Vertrauens? 😉

Das ist keine bewusste Entscheidung. Es ist ein chemisches Jucken, das gekratzt werden will. Dein Gehirn schreit: „HIER! SCHNELL! DOPAMIN! JETZT!“ und deine Hand greift automatisch zum Handy.

Und das Gemeine? Die App-Entwickler wissen das. Die haben ihre Algorithmen so optimiert, dass sie genau diesen Mechanismus ausnutzen. Für uns ADHS-Gehirne ist das wie ein Casino, das speziell für Süchtige gebaut wurde. Ich sag ja nicht, dass wir alle handysüchtig sind… aber… naja, du verstehst schon.

Drama, Gefahr und Chaos: Die dunkle Seite der Dopamin-Jagd

Jetzt wird’s ein bisschen unangenehm, aber bleib dran.

Unser Gehirn ist nicht wählerisch bei seinen Dopaminquellen. Wenn die langweiligen, „gesunden“ Dopamin-Lieferanten nicht genug bringen, greift es zu härteren Mitteln: Drama. Konflikte. Risiko. Chaos.

Ist es dir in der Vergangenheit schon passiert, dass du einen Streit vom Zaun brichst, obwohl du eigentlich gar keinen Bock drauf hast? Oder diesen Drang, etwas leicht Gefährliches oder Grenzwertiges zu tun, einfach weil’s aufregend ist? Überraschungskäufe, impulsive Entscheidungen, das Flirten mit dem Risiko?

Das ist dein Gehirn auf Dopamin-Entzug. Es schaltet in den Überlebensmodus und denkt: „Ich brauche JETZT einen Hit, egal woher.“ Die Konsequenzen? Die sind Problem von Zukunfts-Ich.

Selbst unser Partner oder unsere Freunde können unbeabsichtigt zu Dopaminquellen werden. Ein hitziger Streit? Emotional intensiv? Yep, das gibt einen Dopamin-Schub. Weniger, weil wir toxisch sind oder absichtlich Drama schüren wollen, sondern weil unser Gehirn chemisch darauf anspringt und wir (aus Versehen) gelernt haben, dass so das Dopaminloch gestopft wird.

Hyperfokus: Wenn die Dopamin-Quelle nicht mehr loslässt

Auf der anderen Seite der Medaille haben wir den Hyperfokus. Dieser magische Zustand, in dem wir plötzlich stundenlang an einer Sache kleben wie Sekundenkleber.

Leider leider: Das ist keine Superkraft, die wir nach Belieben aktivieren können. Hyperfokus tritt auf, wenn eine Aktivität genug Dopamin liefert, um unser Gehirn dauerhaft bei der Stange zu halten. Das kann das neue Videospiel sein, ein kreatives Projekt, das Redesignen deines kompletten Schlafzimmers um 23 Uhr, oder die Wikipedia-Spirale über die Geschichte der Kartoffel.

Blöderweise entscheidet das Gehirn, was interessant genug ist, nicht unser Wille. Deshalb können wir sechs Stunden am Stück an unserem Hobby arbeiten, aber keine zehn Minuten konzentriert die Steuer machen. Die Steuererklärung zahlt einfach zu wenig Dopamin-Dollar.

Hyperfixierung ist die Langzeitversion davon: eine tagelange, wochenlange Besessenheit mit einem Thema oder Hobby. Solange der Dopaminfluss steady ist, hält uns nichts auf. Bis die Quelle plötzlich versiegt und wir uns fragen: „Warum hab ich eigentlich 300 Euro für Häkelgarn ausgegeben?“

Zappeln, Stimming und der Versuch, das Dopamin am Laufen zu halten

Bei ADHS ist Bewegung oft mehr als nur Unruhe. Es ist tatsächlich aktive Dopaminproduktion.

Stimming (selbststimulierendes Verhalten) wie Beinwippen, Fingertrommeln, Haare zwirbeln oder mit dem Stift klicken hilft uns, entweder überschüssige Energie abzubauen oder bei Langeweile den Dopaminfluss aufrechtzuerhalten. Bei ADHS liegt die Ruhelosigkeit an der Hyperaktivität, während repetitive Bewegungen zur Beruhigung dienen können.

Es ist, als würde unser Gehirn sagen: „Okay, wenn die Außenwelt mir kein Dopamin gibt, mach ich’s halt selbst.“ Also zappeln wir, bewegen uns, machen Geräusche, und das alles, um diesen minimalen, aber wichtigen Dopamin-Boost zu bekommen.

Für Außenstehende sieht das oft nach Nervosität oder Respektlosigkeit aus („Hör auf zu wippen, das nervt!“). Für Menschen mit ADHS? Ist es (unbewusste) Selbstregulation. Es hilft uns, nicht komplett auszuflippen oder einzuschlafen.

Impulsivität: Wenn das Gehirn im Notfallmodus entscheidet

Impulsivität und Dopamin-Suche sind beste Freunde. Wenn der Dopaminspiegel im Keller ist, schaltet unser Gehirn in den Überlebensmodus: „ICH. BRAUCHE. DOPAMIN. JETZT!“

Comicbild, Frau vor Schaufenster in dem ein Fahrrad steht, sie ruft "Buy now!" als sinnbild für Impulsivität

Und dann passiert’s: Du kaufst spontan diese 200-Euro-Handtasche, obwohl du eigentlich sparen wolltest. Du sagst im Meeting was völlig Unüberlegtes raus. Du buchst einen Flug nach Barcelona, weil’s gerade im Angebot war und du Bock auf Abenteuer hast.

Das ist keine mangelnde Selbstkontrolle. Es ist dein Gehirn, das nach dem schnellsten verfügbaren Dopamin-Hit greift, ohne die Konsequenzen zu bedenken. In dem Moment fühlt sich die Entscheidung richtig an: belohnend, aufregend, befriedigend. Erst später kommt das „Oh shit, was hab ich getan?“ (Ich denk da gerade an das Pferd, das ich mal hatte… RIP Perfect Girl)

Wenn die Dopamin-Jagd zur Sucht wird: Alkohol und andere Substanzen

Die chronische Dopamin-Unterversorgung bei ADHS macht uns anfälliger für Suchterkrankungen. Menschen mit substanzbezogenen Suchterkrankungen haben deutlich häufiger ADHS als die Allgemeinbevölkerung. Ich selbe bin trockene Alkoholikerin und habe erst viel später den Zusammenhang von der Alkoholkrankheit, chronischer Depression und ADHS verstanden. Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder andere Drogen versprechen schnelle und intensive Dopamin-Ausschüttungen. Das ist der ultimative Jackpot für unser unterbezahltes Gehirn (und potentiell leider tödlicher als das “normale” Leben).

Alkohol fühlt sich anfangs an wie die Lösung: Er entspannt, dämpft die innere Unruhe und gibt ein kurzes Belohnungsgefühl. Für mich war er wie eine kuschelige Decke für mein aufgewühltes Inneres. Aber langfristig verschlechtert er die ADHS-Eigenschaften massiv und kann zur Abhängigkeit führen (ist dir hoffentlich nicht neu). Auch Nikotin ist bei ADHS’lern beliebt. Es wirkt im Gehirn ähnlich wie Dopamin und macht ruhiger, konzentrierter und ausgeglichener. Es ist quasi Selbstmedikation, nur eben mit heftigem Suchtpotenzial.

ADHS-Medikamente: Endlich fair bezahlt werden

Und dann gibt’s da noch die offiziellen Helfer: ADHS-Medikamente wie Methylphenidat (Ritalin) oder Amphetamine, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Die funktionieren, indem sie den Dopaminspiegel im Gehirn erhöhen, entweder durch mehr Produktion oder bessere Verfügbarkeit an den Rezeptoren. Plötzlich bekommt dein Gehirn für alltägliche Aufgaben einen fairen Lohn statt Hungerlöhne.

Wie fühlt sich das an? Viele berichten, dass es sich anfühlt, als würde plötzlich der Nebel im Kopf verschwinden. Die innere Unruhe wird leiser. Aufgaben, die vorher unmöglich erschienen, werden… machbar. Nicht euphorisch, nicht high – einfach normal. Als würde man zum ersten Mal mit funktionierenden Bremsen Auto fahren. Manche beschreiben es als „endlich im eigenen Körper ankommen“ oder „die Welt wird weniger laut“. Bei mir persönlich verbesserte sich das Beginnen von Aufgaben, das Dranbleiben, und mein Stresslevel bei langweiligem Mist ist spürbar niedriger, auch wenn ich es immernoch langweilig finde. Es ist nicht perfekt und nicht für jeden gleich, aber für viele ist es der Unterschied zwischen Chaos und Funktionieren.

Fazit: dein Dopaminhaushalt hat „special needs“, achte gut auf ihn

Dopamine Seeking ist keine Schwäche, kein Charakterfehler und keine Ausrede. Es ist Neurobiologie. Dein Gehirn versucht verzweifelt, einen chemischen Mangel auszugleichen, und greift dabei zu den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen.

Das bedeutet nicht, dass du machtlos bist. Aber es bedeutet, dass du anders arbeiten musst als neurotypische Menschen. Akzeptiere, dass dein Gehirn andere Belohnungen braucht. Finde Wege, langweilige Aufgaben dopaminfreundlicher zu gestalten: Musik dabei hören, Belohnungssysteme einbauen, mit Freunden gemeinsam arbeiten, Timer-Challenges nutzen. (Darauf werde ich in anderen Artikel näher eingehen)

Und vor allem: Sei gnädig mit dir selbst. Wenn du mal wieder den Kühlschrank putzt statt die wichtige Mail zu schreiben – du bist immer noch nicht faul! Das ist dein Gehirn, das nach einem besseren Dopamin-Deal sucht. Und verdammt nochmal, wer kann es ihm verübeln?


Disclaimer: Ich bin kein Psychiater/ Psychologe, sondern Betroffen und habe mich enorm viel mit diesen Themen auseinander gesetzt und Zertifikate als Neuroscience, ADHS und Neurodiversitätscoach. 

Gerade Themen wie Depressionen, Sucht und Co. gehören in professionelle Hände!

Mehr zu ADHS, Autismus und dem ganzen AuDHS-Paket gibt’s in den nächsten Teilen dieser Serie. Bis dahin: Bleib neugierig, bleib chaotisch, bleib du.