Das Wort mit S… nein, nicht das, was du denkst
Mir ist aufgefallen, dass ich ständig über das Wort „Symptom“ im Zusammenhang mit ADHS & Autismus stolpere. Ich will es ständig gegen „Eigenschaft“ austauschen und bemühe mich fortan auch sehr darum. Aber warum eigentlich?
Weil „Symptome“ klingt, als hätten wir (bzw. Betroffene) einen Ausschlag, den keiner sehen will, eine Krankheit, die ein bisschen Bettruhe braucht, oder als wäre es sowas wie eine Depression. Und du ahnst es sicher schont: ADHS, Autismus und deren Ausformungen sind keine Krankheit, die geheilt werden muss (und kann). Sie sind einfach die seltener vorkommende Version des Gehirns – mit extra Features, wenn du so willst.
Neurotypisch, neurodivergent, Neurodiversität – ja was denn nun?
Es gibt neurotypisch und neurodivergent. Das alles fällt unter den Schirmbegriff “Neurodiversität”. Das Wort Neurodivergenz setzt sich aus „Neuro-“ für Gehirn und „Divergenz“ für Abweichung oder Verschiedenheit zusammen und bedeutet wörtlich also „Abweichung im Gehirn“ oder „Gehirn-Verschiedenheit“. Es beschreibt das Konzept, das neurobiologische Unterschiede zwischen Menschen als natürliche und gesunde Vielfalt versteht, nicht als Krankheit oder Defekt. Neurodivergenz ist kein medizinischer Fachbegriff für Krankheit, sondern ein Modell, das diese neurologischen Unterschiede als natürliche genetische Varianten betrachtet – ähnlich wie Hautfarbe oder Größe. Es fordert Akzeptanz und Wertschätzung für diese Andersartigkeit statt Stigmatisierung oder Pathologisierung.
Technisch gesehen fallen sowohl ADHS als auch Autismus unter den Begriff „neuronale Entwicklungsstörung“. Aber das klingt auch scheiße, oder? Als wäre unsere Entwicklung irgendwie schief gelaufen. Dabei sind wir einfach anders verkabelt. Und ich finde, selbst das Wort „neurotypisch“ impliziert still und heimlich, dass unsere Gehirne abnormal sind. Was kompletter Bullshit ist, wenn du mich fragst.
Wenn Worte verletzen (und das völlig unnötig)
Die medizinische Literatur (und, wenn wir mal genauer hinschauen, die Hälfte von Instagram) liebt es, mit Begriffen wie Symptome, Defizite, Einschränkungen und Behinderungen um sich zu werfen, wenn es um ADHS und Autismus geht. Ich bin auch schuldig. Es geht halt schnell, schließlich kann man damit durchaus auch einen Grad der Behinderung oder einen Nachteilsausgleich in Ausbildung und Beruf bekommen. Das hat seinen Grund auch darin, dass diese Entwicklungsstörungen enormen Krankheitswert haben oder entwickeln können, insbesondere durch die Komorbiditäten und den subjektiven Leidensdruck.
Aber wie fühlt sich das denn an… Als wärst du defekt? Kaputt? Ansteckend?
Es ist doch nichts falsch mit dir. Dein Gehirn funktioniert nur anders. Nicht schlechter, nicht kaputt, einfach anders. Also können wir bitte die Sprache upgraden?
Lass uns austauschen:
- ~~Symptom~~ → Eigenschaft
- ~~Defizit~~ → Charakteristikum
- ~~Einschränkung~~ → Herausforderung
- ~~Behinderung~~ → Unterschied
Ahhh. Spürst du das? Schon viel leichter, oder?
Sprache formt, wie wir uns selbst sehen. Also lasst uns Worte wählen, die passen, nicht welche, die verletzen.
Ich persönlich habe für MEIN Verständnis kein Aufmerksamkeits-DEFIZIT. Ich hab zu viel davon. Für alles. Mir fehlt nicht die Aufmerksamkeit, mir fehlen Filter.
Warum ADHS und Autismus verstehen so verdammt kompliziert ist
Weil die Überschneidung der Eigenschaften wirklich verwirrend ist.
Zu versuchen, sie zu trennen und herauszufinden, ob du ADHS, autistisch oder beides bist, ist wie Weihnachtslichter zu entwirren. Und ich bin hier, um dir dabei zu helfen, diese verdammten Dinger zu entwirren.
Deshalb nehme ich in dieser Serie die einzelnen Eigenschaften unter die Lupe. Disclaimer: Ich bin keine Psychiaterin oder Psychologin. Ich bin Betroffene und sehr interessiert und involviert in dieses Thema. Also ja, es ist komplex, es ist Chaos, aber es ist sorgfältig kuratiertes Chaos.
Autismus: Das Chamäleon unter den neurologischen Unterschieden
Bevor wir uns ADHS anschauen, kurz zu Autismus (Oder auch ASS – Autismus-Spektrum-Störung), denn der ist oft noch schwieriger zu erkennen. Autismus zeigt sich bei jedem anders, es ist eben ein Spektrum. Besonders bei Frauen und AFAB-Personen (Assigned Female At Birth) bleibt er oft jahrzehntelang unentdeckt, weil wir gelernt haben zu maskieren und man lange annahm, Frauen könnten gar nicht betroffen sein.
Das Ding ist: Oft wird Autismus erst sichtbar, wenn das ADHS behandelt wird. Plötzlich fallen die Strukturen weg, die das ADHS-Chaos in Schach gehalten haben, und darunter kommt zum Vorschein: „Ach, hallo Autismus, warst du die ganze Zeit schon da?„
Autismus sieht selten so aus, wie man’s aus Film und Fernsehen kennt. Sheldon Cooper aus „The Big Bang Theory“ zeichnet da ein lustiges, aber auch schmerzvolles, polemisches, und „typisch männliches“ Bild. Klar, der Typ ist irgendwie Kult, aber die mediale Version von Autismus ist so flach wie der einzige Witz, den ich mir merken kann.
Im echten Leben ist Autismus ein irrer Mix:
- Soziale Erschöpfung nach Interaktionen? Ja, aber das ist nicht einfach „Ich mag keine Menschen“. Es ist eher wie, nach einem Gespräch fühlt sich dein Kopf an, als hätte er fünf Runden im Boxring gedreht, weil all die kleinen Botschaften, Blicke, Tonschwingungen einfach knallhart verarbeitet werden müssen.
- Intensive Spezialinteressen? Haben viele, aber nicht alle. Das kann alles sein, von Käfer sammeln über Raketen bauen bis zur exzessiven Kenntnis über alte Fernsehserien. Außenstehende denken dann: „Boah, das ist ja mega viel!“ Und ja, ist es auch. Aber hey, jeder hat doch angeblich ein Hobby, das ein bisschen übertrieben ist, oder? (Sarkasmus aus)
- Sensorische Über- oder Unterempfindlichkeiten sind wie der persönliche Soundtrack, den jeder anders hört: manche überdreht, andere eher auf „Wenig-Vibration“ gestellt. Manche kriegen vom Krach Kopfschmerzen, andere merken nicht mal, wenn einer neben ihnen eine Party schmeißt, wieder andere kriegen bei gewissen Gerüchen Zusammenbrüche oder einen Herpesausbrauch am Mund, wenn eine klebrige Hand sie berührt..
- Der Need for Routine und Vorhersagbarkeit ist die Strategie, um nicht komplett den Verstand zu verlieren. Wenn plötzlich alles anders ist, denkt das Gehirn „Alarm, Wirrwarr!“, und dann ist dieses krasse Gefühl, komplett lost zu sein, ein heftiger Zustand.
- Der direkte Kommunikationsstil? Ja, viele Autist*innen sagen, was Sache ist (oder fressen es in sich hinein und werden davon krank). Es ist, als würden Filter fehlen. Leider verstehen das viele Leute als „Unhöflich“ oder „Hab keine Manieren“. Dabei ist es oft einfach Ehrlichkeit pur. So wie „Ich mag kein Smalltalk“, ohne drumherum zu tänzeln.
Kurzum: Autismus ist eine superschicke Vielfalt und nichts, was du aus einer Sitcom rauskopieren kannst. Und dieser bunte, komplexe Mix lebt in jedem Menschen individuell – so wie normale Leute Lisa, Alex, oder Dennis heißen, heißt Autismus eben auch unterschiedliche Dinge bei unterschiedlichen Leuten.
ADS vs. ADHS – wie war das nochmal?
Viele kennen ADHS als die klassische Hibbel-Geschichte bei Kindern, denen ständig das Bein zuckt (man denke nur an dieses gruselige Kinderbuch vom Zappelphilipp). Aber: Es gibt nicht nur das „H“ für Hyperaktivität.
ADS (ohne Hyperaktivität) ist die Variante der stillen Tagträumer. Das sind die Profis im mentalen Abschweifen. Die innerliche Unruhe, die innere Dauerbaustelle, wird oft übersehen, erst recht im Erwachsenenalter. Die Leute wirken verträumt, chaotisch, schnell überfordert… aber wen stört das schon, wenn sie keine Tische umwerfen?
ADHS (mit Hyperaktivität) ist die „Bäm! Ich bin überall“-Version. Hier läuft das Gedankenkarussell auf Hochtouren, und auch der Körper dreht mit. Quasseln, Zappeln, ständig auf dem Sprung. Und auch wenn’s für Außenstehende nach purem Energie-Overflow aussieht, findet das insbesondere im Erwachsenenalter oft innerlich statt.
Tatsache: In der Praxis verschwimmen die Grenzen oft, viele Erwachsene werden als Kombityp diagnostiziert. Aufmerksamkeitsprobleme, innere Unruhe, impulsive Aktionen: alles am Start, aber elegant nach außen maskiert.
Die drei Gesichter von ADHS
ADHS ist keine Einheitsnummer. Es zeigt sich ziemlich unterschiedlich – je nachdem, welcher Teil deines Gehirns gerade die Führung übernimmt. Die drei Typen sind wie verschiedene Farben in einem Farbkasten, und das Mischverhältnis malt spannende, wunderschöne Bilder.
Der Träumer: Unaufmerksamer Typ
Man sieht ihn nicht sofort, denn dieser Typ sitzt meist still daneben, wirkt manchmal lost oder in Gedanken weit weg. Doch in diesem ruhigen Geist tobt oft ein Kampf: Fokus behalten, dranbleiben, organisieren. Klingt langweilig? Ist es nicht!
Typisch für Erwachsene dieses Typs:
- Die Gedanken fliegen während Gesprächen oder Aufgaben gern mal aus dem Fenster.
- Prokrastination hat hier Meister-Level – der Start ist der härteste Schritt.
- Schlüssel, Handy, Termine – alles landet gerne spontan an Orten, von denen niemand weiß.
- Planen und Priorisieren fühlen sich an wie Mathe ohne Taschenrechner.
- Manchmal wirkt man passiv, verträumt oder schnell überfordert – das ist deine Realität? Es ist okay!.
Grenzen setzen bedeutet hier: Ich darf mir Pausen gönnen, wenn mein Kopf zu laut wird, und „Nein“ sagen, wenn mich die Organisation erdrückt. Lösungen finden heißt: Kleine To-dos statt Berge, Reminder nutzen, Schritt für Schritt.
Der Energiebündel: Hyperaktiv-Impulsiver Typ
Das klassische „Ich bin ein Wirbelwind, der nie stillsteht“. Bei Erwachsenen zeigt sich das seltener äußerlich, denn sie hatten ja genug Zeit, zu lernen, wie sie es maskieren… Oft ist es ein inneres Feuer, das unaufhörlich brennt. Es kann bedeuten, dass die Gedanken rasen, die Impulse durchbrechen und Gefühle explodieren.
Erwachsene mit diesem Typ spüren oft:
- Permanent angespannt, als wäre der innere Turbogang an.
- Redefluss ohne Pause, mitten ins Gespräch platzen, weil’s einfach raus muss.
- Impulsive Entscheidungen treffen – mal schnell was kaufen oder Jobwechsel klappt manchmal so.
- Stillsitzen? Ein Kraftakt sondergleichen.
- Auf andere wirken sie oft intensiv, ungeduldig oder explosiv.
Die Kunst hier ist: Die ungefilterte Energie wahrnehmen, ohne dass sie zerstörerisch wird. Grenzen setzen heißt: Sich selbst stoppen lernen und kleine Inseln der Ruhe schaffen, ohne sich selbst abzuwerfen. Lösungsorientiert heißt: Kanalisieren statt Unterdrücken.
Der Allrounder: Kombinierter Typ
Wenn dein Kopf ein DJ ist, der zwischen dem Träumer und dem Energiebündel switcht, bist du wahrscheinlich dieser Typ. Häufigste Form bei Erwachsenen, ich zähle auch dazu. Die komplexe Mischung macht das Leben manchmal zum Balanceakt.
Das bedeutet:
- Schwierigkeit, Fokus zu halten und gleichzeitig das innere Feuer zu zähmen.
- Ablenkung ist ein ständiger Begleiter, genauso wie das Gefühl, von allem überrollt zu werden.
- Der Anfang von Aufgaben ist oft ein Kampf, das Anhalten ebenso.
- Burnouts, emotionale Achterbahnen, und komplette Desorganisation sind keine Seltenheit.
Das fordert uns heraus, aber macht uns auch stark. Grenzen bewahren heißt hier: Achtsam mit sich selber sein, rechtzeitig „Stopp“ sagen und Pausen einlegen. Lösungen kommen durch Struktur und Flexibilität – klare Prioritäten, aber auch Mitgefühl für die eigene Unvollkommenheit.
Warum bekommen plötzlich alle Erwachsenen ADHS diagnostiziert?
Erstmal: Nein, die haben das nicht „plötzlich“. Die Eigenschaften waren immer da, nur hat es lange keiner gemerkt. Viele Erwachsene sind einfach Weltmeister im Kompensieren (geworden).
Sie entwickeln clevere Strategien, um irgendwie durchs Leben zu kommen: tausend Listen schreiben, Termine im Handy fünfmal erinnern lassen, Ordnungssysteme erfinden (und dann vergessen, sie zu benutzen). Nach außen wirkt es oft, als hätten sie alles im Griff, aber hinter den Kulissen regiert das Chaos und wohnt die Erschöpfung.
Warum jetzt die angebliche Diagnosewelle? Weil wir in den letzten Jahren langsam aber sicher gerafft haben, dass ADHS nicht mit der Pubertät verschwinden. Stress im Job, Familie, Beziehungen, Social Media – alles multipliziert die bestehenden Eigenschaften. Plötzlich fragen sich immer mehr Erwachsene: „Warum kann ich mich auf nix konzentrieren?“ Oder: „Warum ist mein Hirn so durcheinander, aber niemand merkt was?“ Oder auch: “Diese Erschöpfung ist doch nicht mehr normal…” Immer mehr Menschen öffnen sich und berichten davon, Social Media macht es sichtbar (zum Glück, ein Vorteil dieser Dopaminhölle)
Und ganz ehrlich? Das Leben „halbwegs gebacken kriegen“ heißt bei ADHS oft nur, dass die Fassade hält. Die eigentliche Anstrengung dahinter sieht keiner. Deshalb: Diagnose im Erwachsenenalter ist kein Hype, sondern endlich Klarheit nach Jahren im Lebens-Dschungel.
AuDHS: Wenn zwei Welten kollidieren
Wenn ADHS und Autismus zusammen auftreten, wird das „AuDHS“ genannt (Au = Autismus, DHS – ADHS) Das ist die „Deluxe“-Version, sozusagen. Ich selbst habe das erst richtig begriffen, als ich meine ADHS-Diagnose hatte und merkte: Hey, da ist noch mehr unter der Oberfläche!
Bei AuDHS sieht ADHS selten so aus, wie man es aus Lehrbüchern kennt. Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität sind zwar da, aber sie werden anders verpackt. Vieles wird maskiert, umgelenkt oder verinnerlicht, weil autistische Merkmale mit reinspielen: soziale Maskierung (so tun, als wär alles normal), strikte Routinen, und mitunter heftige sensorische Sensitivitäten, die ständig im Hintergrund mitschwingen.
Das macht es für Außenstehende oft schwer, die Kombination zu erkennen. Gerade Frauen und AFAB-Personen (asigned female at birth: alle, die bei Geburt als weiblich eingestuft wurden)unterdrücken und kompensieren vieles auf Kosten ihrer physischen und psychischen Gesundheit. Gesellschaftlich wurden und werden sie oft darauf getrimmt, „funktionieren“ zu müssen, und das führt dazu, dass viele ihre Eigenschaften tief verbergen.
Die Realität ist aber ganz anders:
- Hyperaktivität ist nicht mehr das klassische Hibbeln, sondern zeigt sich als repetitive Bewegungen, sich wiederholende Gedanken oder als ständiger emotionaler Aufbau, der schwer abzuschalten ist.
- Unaufmerksamkeit entsteht oft durch sensorische Überlastung, die den Kopf komplett lahmlegt, kognitive Erschöpfung und sogar Shutdown-Zustände, bei denen das Gehirn wie abgestürzt scheint.
Studien bestätigen, dass zwischen 50 und 70% der Erwachsenen mit Autismus auch ADHS haben. Das erklärt, warum viele mit beiden Diagnosen häufiger den kombinierten ADHS-Typ tragen – also alle Herausforderungen auf einmal.
Was heißt das für dich? Wenn du autistisch und ADHS hast, hast du wahrscheinlich das ganze Paket bekommen. „Glückwunsch“ – und Respekt dafür, täglich mit all diesen Eigenschaften zu jonglieren!
Das Gute daran: Das Wissen um diese Überschneidung ist der erste Schritt, um besser mit sich selbst klarzukommen. Es erlaubt, Strategien zu entwickeln, die auf das ganze Paket zugeschnitten sind, statt nur halbe Sachen zu machen. Für mich war die ADHS-Diagnose ein Augenöffner, aber erst die Erkenntnis von AuDHS hat vieles erklärt und Wege geebnet, mich besser zu verstehen und zu leben.
Das war erst der Anfang! In meiner neuen Serie nehme ich die einzelnen Eigenschaften von ADHS und Autismus unter die Lupe – relatable und in mundgerechten Häppchen. Stay tuned!
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