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Überall ploppt gerade dieses Wort auf: Regulation.
Instagram? Atemübungen in Dauerschleife.
LinkedIn? Coaches, die dir das ultimative Nervensystem-Reset versprechen.
Podcasts? Gefühlt jede zweite Folge: Polyvagal-Theorie.

Regulation ist das neue Detox. Nur halt fürs Nervensystem.

Und ja, ich hab gemischte Gefühle. Einerseits: endlich reden wir über etwas, das für viele Menschen – besonders für neurodivergente – tatsächlich ein Gamechanger sein kann. Andererseits: es wird, wie bei jedem Trend, viel zu oft das Pferd von hinten aufgezäumt. Da werden Lösungen verkauft, die keine sind. Und vor allem: ein Missverständnis, das sich durchzieht wie Kaugummi.

Die unbequeme Wahrheit? Regulation ist nicht dazu da, dich zu reparieren oder deine Reaktionen wegzupolieren. Dein Nervensystem ist kein störrisches Haustier, das man erziehen muss. Eher ein ziemlich überfürsorglicher Freund, der manchmal etwas zu laut „Achtung!“ schreit.

Was ist der Regulations-Trend?

Stell dir dein Nervensystem mal als überdrehte Kapellmeisterin vor.
Die Geigen kreischen zu laut, die Bläser kommen gar nicht zum Einsatz, und sobald irgendwo ein Handy klingelt, wirft sie den Taktstock hin und lässt alles verstummen. Genau da setzt der Regulation-Trend an: Er verspricht, dieser Kapellmeisterin endlich das Notenlesen beizubringen.

Klingt charmant, oder?
Aber was steckt wirklich dahinter?

Es geht um Methoden, die dein autonomes Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen sollen – also den Teil, der ohne dein Zutun Herzschlag, Atmung, Verdauung und die komplette Stress-Show steuert. Die Basis dafür liefert die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges. Kurz gesagt: dein System wechselt ständig zwischen Zuständen wie „alles safe und entspannt“, „Gefahr, sofort rennen oder kämpfen!“ und „ich bin raus, gute Nacht.“

Und wo begegnet man diesem Trend? Ehrlich gesagt: überall.

  • Atemtechniken werden als Allheilmittel verkauft.
  • Gewichtsdecken sind plötzlich Lifestyle-Produkte.
  • Apps versprechen dir Zen in 10 Minuten täglich.
  • Workshops zum „somatischen Erleben“ sind ausgebucht.
  • Und gefühlt jede*r ist neuerdings Vagusnerv-Guru.

Wenn man’s so liest, wirkt Regulation wie ein Mix aus Yogastudio, Online-Shop und Selbstoptimierungs-App.

Was wird bei Regulation versprochen?

Die Versprechen? Sagen wir’s so: da wird ziemlich dick aufgetragen.

  • „Endlich entspannt durch den Alltag – mit nur fünf Minuten Atemübungen täglich!“
  • „Schluss mit Überforderung: Reguliere dein Nervensystem in Sekunden!“
  • „Von 0 auf Zen: Die ultimativen Hacks für Hochsensible!“
  • „Nie wieder Burnout – trickse einfach dein autonomes Nervensystem aus!“

Klingt alles nach Zauberstab. Einmal schwingen, und deine Probleme lösen sich in Luft auf.
Und natürlich besonders für neurodivergente Menschen: Endlich normal funktionieren! Nur kurz die App runterladen, ein paar Übungen klicken – und zack, alles im Lot.

Die Bilder dazu kennst du: makellos ausgeleuchtete Wohnzimmer, Menschen in Leinenkleidern, die mit geschlossenen Augen „bewusst atmen“, oder lächelnd unter Gewichtsdecken liegen. Alles wirkt perfekt. Friedlich. Fast steril.

Und dann sitzt du morgens um sieben im Zug, das Neonlicht brennt dir in die Augen, irgendwer telefoniert zu laut, die Bremsen quietschen, und du denkst: „Wo genau soll ich hier jetzt meinen Vagusnerv regulieren, bitte?“

Die Wahrheit: Was dir keiner über Regulation sagt

Hier wird’s unbequem. Weil die Wahrheit nicht in diese hübschen Insta-Kacheln passt.

Erstens: Regulation ist nicht dazu da, deine Reaktionen „wegzumachen“. Wenn du bei lauten Geräuschen zusammenzuckst oder dein System sofort in Alarm geht – das ist keine Fehlfunktion. Das ist dein Nervensystem, das seinen Job macht. Vielleicht ein bisschen übermotiviert, aber eben nicht kaputt.

Zweitens: Diese „5 Minuten täglich“-Tipps? Nett gemeint. Aber wenn dein Nervensystem Achterbahn fährt, wirken die ungefähr so hilfreich wie der Rat, auf der Titanic doch einfach mal „tief durchzuatmen“.

Drittens: Atemübungen sind kein Wundermittel. Für manche sind sie Gold wert. Für andere sind sie ein Trigger. Gerade wenn du deinen Körper schlecht spürst (Alexithymie lässt grüßen), kann Atmen im Fokus sogar Stress verstärken.

Viertens: Ein reguliertes Nervensystem ist nicht automatisch ruhig. Manchmal bedeutet Regulation auch, dass du dich aufregst. Energie hast. Oder klar „Nein“ sagst. Ruhe ist nicht immer das Ziel – stimmige Reaktion schon.

Fünftens: Dein Umfeld zählt. Du kannst atmen, klopfen und Gewichtsdecken stapeln, wie du willst – wenn deine Arbeit dich täglich sensorisch grillt, ist Überlastung trotzdem vorprogrammiert. Regulation ist kein Schutzschild gegen eine beschissene Umgebung.

Die wichtigste Wahrheit? Regulation funktioniert am besten, wenn du neugierig bleibst. Wenn du dich nicht fragst: „Wie werde ich normal?“ – sondern: „Wie tickt mein System, und wie kann ich es besser verstehen?“

Der Regulation-Trend aus meiner Sicht: Werkzeugkasten, keine Wunderwaffe

Für mich ist Regulation kein Zauberstab. Eher ein Werkzeugkasten. Praktisch, wenn du weißt, welches Tool wofür gedacht ist – aber komplett frustrierend, wenn du mit dem Schraubenzieher versuchst, Nägel einzuschlagen.

Nach Jahren Arbeit mit neurodivergenten Menschen hab ich eins gelernt: Regulation ist in erster Linie Selbstverständnis. Es geht weniger darum, „mich endlich in den Griff zu bekommen“, sondern darum, zu verstehen, wie mein System auf die Welt reagiert. Wo es sich überlastet. Wo es Kraft tankt. Welche Knöpfe es zuverlässig drückt.

Und genau da stört mich der aktuelle Hype: Er verkauft oft immer noch das alte Märchen vom „defekten“ Nervensystem, das dringend gefixt werden muss. Besonders für neurodivergente Menschen ist das brandgefährlich, weil ihre Unterschiede eben keine Bugs sind. Das sind Features. Sie brauchen keine Updates, sondern ein Handbuch.

Heißt nicht, dass Regulation überflüssig wäre. Ganz im Gegenteil: sie kann extrem hilfreich sein. Aber die Ausgangsfrage muss sich ändern. Nicht: „Wie kann ich normal werden?“ Sondern: „Wie kann ich mit meinem Nervensystem so leben, dass es für mich passt?“

Das sind deine nächsten Schritte beim Thema Regulation

Falls du jetzt Lust bekommen hast, deinem Nervensystem etwas Aufmerksamkeit zu schenken (ohne es dabei „reparieren“ zu wollen), hier sind ein paar Gedanken:

  1. Forscherin statt Reparateurin
    Hör auf, dich wie ein kaputtes Gerät zu behandeln. Werde neugierig. Beobachte, wie dein System reagiert: auf Lärm, Menschen, Routinen, Essen, was auch immer. Schreib’s auf, wenn du magst. Das ist keine Fehlerliste, sondern deine Bedienungsanleitung.
  2. Klein anfangen, wirklich klein
    Vergiss dieses „Fünf Minuten am Tag und alles wird gut“. Fang mit einem Ding an. Vielleicht Bewegung. Vielleicht eine Kopfhörer-Pause. Vielleicht ein Glas Wasser. Finde raus, was dir hilft – nicht, was auf irgendeinem Reel funktioniert.
  3. Umgebung ernst nehmen
    Regulation passiert nicht im Vakuum. Wenn dein Arbeitsplatz dich täglich überreizt, helfen dir die besten Atemtechniken nur begrenzt. Also: Licht, Geräusche, Reize – was kannst du verändern, was kannst du rausnehmen? Das ist keine Schwäche, das ist Selbstschutz.
  4. Ko-Regulation nutzen
    Menschen regulieren sich gegenseitig. Klingt kitschig, ist aber wahr. Such dir ein Gegenüber, bei dem du runterfährst. Das wirkt oft stärker als jede fancy Methode.
  5. Professionelle Hilfe ist keine Niederlage
    Wenn du merkst, dein Nervensystem hängt ständig fest, hol dir Support. Jemand, der Neurodiversität versteht und mit dir Strategien entwickelt, die nicht nach Schema F laufen.
  6. Masking-Check
    Falls du neurodivergent bist: Schau hin, wo du dich verstellst, um zu „funktionieren“. Dieses dauerhafte Schauspiel frisst unfassbar viel Energie. Regulation bedeutet auch, sicher Schritt für Schritt mehr du selbst zu werden.

Fazit: Regulation ist ein Marathon, kein Sprint

Der Regulation-Trend bleibt. Und ehrlich gesagt: das ist auch gut so – wenn wir ihn endlich richtig verstehen.

Regulation ist kein Lifestyle-Accessoire und schon gar nicht die Abkürzung zu „alles im Griff“. Es ist ein Weg, dein eigenes System zu verstehen. Freundlicher mit dir umzugehen. Klarer zu merken, was dich hochfährt und was dich runterholt.

Ja, das braucht Zeit. Und genau da kriegen manche Menschen innerlich schon das Kotzen, weil sie lieber Quick Fixes hätten. Versteh ich. Nur: die Zeit vergeht sowieso. Ob du in einem Jahr immer noch wartest, dass jemand dir die perfekte Übung verkauft – oder ob du bis dahin zehn kleine Dinge ausprobiert hast, die dir tatsächlich helfen, liegt bei dir.

Und klein heißt wirklich klein. Kein komplett neuer Lebensstil, keine 60-Minuten-Routine. Ein Ohrstöpsel hier. Eine Mini-Pause da. Eine bewusst gesetzte Grenze. So fängt’s an.

Besonders für neurodivergente Menschen ist Regulation nicht die Frage „Wie werde ich normal?“ sondern: „Wie kann ich mit meiner Verdrahtung leben, ohne mich dauernd zu erschöpfen?“ Dein Nervensystem ist kein Feind, es ist übervorsichtig und manchmal ein bisschen ungeschickt – aber es will dich schützen.

Also: Lass dir nicht einreden, dass du kaputt bist. Du bist nicht kaputt. Du bist komplex. Und Schritt für Schritt – wirklich in kleinen Schritten – lernst du, mit deinem System zusammenzuarbeiten statt dagegen.

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