Neulich saß ich in einem Gruppensetting, und es war… viel. Auf die gute Art viel, auf die anstrengende Art viel, auf die „ich-brauche-nachher-drei-Stunden-Schlaf“-Art viel. Eine Weiterbildung rund um Psyche, Supervision und so Krams, geleitet von einer Psychologin, und ich kannte vorher keine Menschenseele dort.
Solche Settings sind für mich immer ein Trainingscamp, eine Art “Bootcamp für neues Verhalten”. Ein Ort, an dem ich übe, nicht sofort die Gruppendynamik zu übernehmen (auch wenn mein Gehirn das sehr gerne möchte). Ein Ort, an dem ich lerne, anderen ihren Lernraum zu lassen, während ich selbst zwischen Unterforderung und Überstimulation pendele. Ein Ort, an dem ich gleichzeitig unsicher bin und eine sehr starke Maske trage, eine Maske, die ich dann aktiv zügeln muss, weil sie sonst Amok läuft.
Ich weiß nicht, ob ich das richtig erklären kann, aber es ist wie ein überdrehter Autopilot, der binnen eines halben Tages die Gruppe „im Griff“ hat. Ich kriege sehr schnell mit, wie die Leute drauf sind, was sie brauchen, wie ich jedem Gutes tun kann. Das klingt jetzt nach einer wunderbaren sozialen Superkraft (ist es manchmal auch), aber es ist gleichzeitig ein verdammt anstrengendes Ding, wenn man eigentlich nur lernen will und nicht die inoffizielle Co-Seminarleiterin spielen möchte.
Und dann passierte etwas, das mir immer noch guttut: Validierung von außen.
Fünf Minuten bis zur Verdachtsdiagnose
Die Seminarleiterin war eine tolle, kluge Frau mit einer Sprechgeschwindigkeit, die perfekt zu mir passte. Ich höre Podcasts grundsätzlich auf 1,5-facher Geschwindigkeit und viele Videos gleich noch schneller. Bei ihr hätte ich das nicht gebraucht. So angenehm…
Sie wusste nichts von meiner ADHS-Diagnose, aber ich habe es im obligatorischen Einzelgespräch angesprochen, weil… nun ja, weil es halt relevant war. Sie war nicht überrascht 😀
Sie brauchte zu Beginn des Tages etwa fünf Minuten, um für sich selbst quasi die Verdachtsdiagnose zu erstellen, die sich bis zu unserem Gespräch verhärtete. Fünf. Minuten. (Und ich dachte, ich hätte mich zusammen gerissen…)
Das ist immer noch so witzig (aber auch traurig) für mich, weil: Wie konnten fast 40 Jahre lang so viele Menschen (insbesondere so einige Therapeuten!) um mich herum nicht mitkriegen, dass ich ein bisschen anders gestrickt bin? Okay, sie ist Psychologin (keine Therapeutin/ Psychiaterin) und studiert hat sie auch schon vor einer Weile, als Neurodivergenz noch nicht so im Fokus war. Aber trotzdem. Da sitzt jemand, der in dem Gebiet bewandert ist, und innerhalb von Minuten ist klar: Ah, ja, natürlich.
Diese Art der Validierung tut immer noch gut. Besonders, weil ich meine Diagnose auch immer mal wieder anzweifle. Was vermutlich typisch ist, wenn man jahrzehntelang mit „Reiß dich zusammen“ und „Du könntest, wenn du wolltest“ durch die Welt geschubst wurde. Wenn dann eine außenstehende Person, die grundlegend bewandert ist auf dem Gebiet, innerhalb von Minuten sieht, was andere jahrzehntelang übersehen haben, dann ist das wie ein kleines Geschenk.
Der hohe IQ, der nicht weiß, wohin mit sich
Ich habe auch einen sehr hohen IQ. (Ja, das gehört zum Thema, auch wenn es sich immer so nach Angeben anhört.) Das Problem: Ich kann ihn nicht gut lenken. Das wurde nie gefördert, gefordert, in Bahnen geleitet. Ich habe keine Spezial- oder Inselbegabung, aber ich kann sehr schnell Strukturen und Muster aufdecken, was in Kombination mit ADHS bedeutet, dass ich gleichzeitig alles sehe und nichts festhalten kann.
Es ist, als hätte man ein Hochleistungs-Fernglas geschenkt bekommen, aber niemand hat erklärt, wie man den Fokus einstellt. Also stehe ich da und sehe tausend Details gleichzeitig, aber nichts davon scharf.
In dem Seminar war es am Anfang sehr schwer für mich, nicht in die Gruppendynamik einzugreifen. Ich wusste bei einigen Sachen schon, was gleich kommt. Man hat schnell gemerkt, dass ich weiter bin bei manchen Themen. Ich durfte dann teilweise machen, was ich wollte, oder bekam Spezialaufgaben, was einerseits schön war, andererseits aber auch bedeutete: Ich sitze hier manchmal und langweile mich, während andere Menschen gerade wichtige Lernmomente haben, die ich ihnen nicht wegnehmen darf (und will).
Und hier kommt einer dieser Schatten zum Vorschein, die ich noch bearbeite: Früher hätte ich in so einem Setting innerlich nach drei Sekunden abgeschaltet. „Die können mir intellektuell nicht das Wasser reichen.” Unangenehm, oder? Wert über Nützlichkeit zu definieren… Puh. Aber: FRÜHER! (Ja, ich weiß. Sympathisch bin ich.) Heute weiß ich: Das ist mein Gehirn, das versucht, mit Überstimulation und Unterforderung gleichzeitig klarzukommen. Das ist keine Wahrheit über andere Menschen, sondern ein Schutzmechanismus, den ich verlernen darf.
Lösung für die Langeweile? Ich habe ein gutes Buch gelesen, was ich in weiser Voraussicht mal eingepackt habe. (20 Milligramm Ritalin hindern mich trotzdem nicht daran, auch mal abzuschalten, wenn es sein muss.)
Die Kunst, unangenehme Fragen zu stellen
Am nächsten Tag, als wir als Gruppe eingegroovt waren, habe ich mich in manchen Momenten mit der Seminarleiterin über Blicke verständigt (ein unterschätztes Kommunikationsmittel!). Es war dann okay, wenn ich manchen Teilnehmenden ein bisschen unter die Arme griff. Nicht in der „Ich mach das für dich“-Manier, sondern eher: Man darf mich ansprechen, ich sitze daneben, kriege mit, dass da was ist, und biete einen Spiegel an, helfe beim zurecht finden.
Es gab eine Frau, die sehr zurückgezogen war und sich erst nach und nach öffnete. Als sie in einem privaten Moment von einer Lebensentscheidung erzählte, die für mich selbstverständlich gewesen wäre, wusste ich: Für sie ist das ein Riesending. Also habe ich sie dafür (aus tiefstem Herzen und absolut ehrlich) bewundert, respektiert, die Gefühle anerkannt, die sie nicht ausdrücken konnte oder wollte. Und es war so schön zu sehen, wie eine Anspannung von ihr fiel. Vielleicht, weil sie sich endlich mal wieder verstanden und gesehen fühlte?
Das ist das, was ich an anderen Menschen liebe: In jedem steckt etwas, wofür ich ein ernst gemeintes Kompliment finden kann. (Okay, bei manchen müsste ich richtig graben und würde vielleicht landen bei: „Faszinierend, welche Tiefbegabung für Arschlochsein Sie da entwickelt haben“ – aber immerhin ist es dann kreativ formuliert.)
Früher wäre ich in manchen Situationen auch aggressiver gewesen (bzw hätte so gewirkt), glaube ich. Heute habe ich gelernt (und übe noch daran), anders an manche Menschen ranzugehen als es mein erster Impuls mir sagt (“Aufs Maul!”)
Zum Beispiel, als ein Mann einer Teilnehmerin zum gefühlt fünften Mal seine Meinung zu etwas aufdrängen wollte, obwohl sie klar gesagt hatte: „Ich habe das für mich geklärt.“ Er hörte nicht auf. Also stellte ich ihm die Frage: Warum er denn jetzt immer noch seine Meinung sage, obwohl wir die alle kennen und sie bereits gesagt hat, wie sie sich entscheidet. Fällt es ihm schwer, ihre Aussage hinzunehmen, oder denkt er, seine Meinung wäre die “richtigere”?
(Es tut mir fast leid für manche Männer, die auf mich treffen. Aber wenn ich sehe, dass jemand neben mir in Not ist und sich gerade nicht selbst helfen kann, dann greife ich ein. Das mag übergriffig sein – ich sage ja nicht, dass ich perfekt bin.)
Manchmal kommen auch Menschen (nach Vorstellungsrunden zum Beispiel) auf mich zu und wollen mit mir diskutieren, dass mein Name falsch geschrieben sei. Da fehle doch ein Buchstabe! “Ich habe das noch nie gehört, KATARIN. Das heißt doch Katharina. Oder Kathrin. Aber Katarin? Bist du sicher? Wieso fehlt da ein A?”
Boah Torsten, meine Mutter ist nicht da, ich kann die nicht fragen, was sie sich dabei gedacht hat. Was ist so schwer daran? Und wieso glaubst du ernsthaft, ich wüsste nicht, wie mein Name geschrieben wird? (Es ist ja nicht so, als hätte ich einen Penis auf die Stirn tätowiert. Da fehlt halt ein Buchstabe, den du sonst erwartest. Komm klar.)
Herzfrequenz 120 und trotzdem präsent
Ich bin froh, dass ich mittlerweile an einem Punkt bin, wo ich mich nicht mehr ständig klein mache und zurückhalte. Gleichzeitig lerne ich noch, wie ich meine Grenzen kommuniziere, ohne Menschen zu verletzen. Es ist ein Balanceakt, und manchmal rutsche ich aus.
Was mir in dieser Woche aber auch bewusst wurde: Wie viel besser ich mittlerweile damit umgehen kann. Ich stehe entsprechend früh auf, mache morgens Yoga, esse ordentlich. (Nicht freiwillig bzw. lustvoll. Aber es tut mir gut, ich brauche es, ich will leistungsfähig sein, und: abends bleibt für vieles keine Zeit mehr) Meine Fitbit-Uhr zeigt mir trotzdem, dass meine Herzbelastung während der Seminarzeiten immer wieder anstieg. Nicht so, dass ich mit Puls 120 dasaß, aber doch spürbar. Das Ritalin bildet sich da auch ab, klar, aber diese Anstiege während der Seminare waren schon faszinierend.
Mittags bin ich dann immer alleine spazieren gegangen. Eine halbe Stunde, auch bei Regen. Ich brauche diese Bewegung. Zum Einen ist es ein Überbleibsel aus den Hunderunden von früher, zum Anderen ist es mittlerweile ein wichtiges Ritual für mich. Andere wollten quatschen, aber nein: Ich muss jetzt mal raus. Das hat nichts mit euch zu tun, das brauche ich einfach. Und dann erkunde ich die Gegend, freue mich an der Umgebung, sammle Äpfel, und krieg meinen Hormonhaushalt (Grüße ans Noradrenalin) wieder etwas geregelt.
Warum ich das alles erzähle
Jeder hat seine eigene Entwicklungsreise. Jeder kommt irgendwann an den Punkt, wo er dachte, er hätte es schon gekonnt, und dann merkt, dass da noch Luft nach oben ist. Oder nach unten. Oder zur Seite.
Ich brauche diese Rückschau, um anerkennen zu können, wie viel ich schon geschafft habe. Das ist mir manchmal nicht bewusst. Früher wäre ich aus diesem Raum gesprungen – innerlich, äußerlich, egal. Heute sitze ich da, trage bei, halte mich zurück, helfe, wo ich kann, und gehe spazieren, wenn es zu viel wird.
Solche Gruppensettings sind anstrengend. Sie sind gleichzeitig schön. Sie sind Übungsfelder, auf denen ich lerne, mit meinem Gehirn umzugehen, mit anderen Menschen umzugehen, mit mir selbst umzugehen.
Und am Ende? Validiert mich eine Psychologin binnen fünf Minuten und ich sitze da und denke: „Hah. Haben ich und die anderen Ärzt:innen sich zum Glück wirklich nicht getäuscht.“
Ist das nicht wundervoll? 🙂
P.S.: Ich war auch sehr offen über meine Alkoholsucht in der Gruppe. Es funktioniert erstaunlich gut, mit Menschen darüber zu reden, wie sich eine Sucht anfühlt. Und es ist nach wie vor faszinierend für mich, wie viel Missverständnis da draußen kursiert. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Blogpost.


